Alle Artikel in: Romane

Rezensionen zu zeitgenössischen Romanen

Adélaïde Bon – Das Mädchen auf dem Eisfeld

Adélaïde ist neun Jahre alt, als sie von einem Fremden im Treppenhaus ihres Wohnhauses missbraucht wird. Er lockt sie unter einem Vorwand zu sich und vergeht sich an dem Mädchen, das weder begreift, was im Moment selbst mit ihr geschieht noch die Chance bekommt, im unmittelbaren Anschluss an das Verbrechen dessen Tragweite zu erkennen. Es dauert über zwanzig Jahre, bis sie versteht und mit der Aufarbeitung beginnen kann. Sie hat ihn angesehen und mit dem Kopf genickt wie diese kleinen Hunde auf der Hutablage hinten im Auto. Ich bin lieb, ich bin hübsch, ich mag das, du bist mein Freund, du magst meinen dicken Po, du tust mir gut, ich bin eine Naschkatze, ich sage niemandem was davon, es ist unser Geheimnis, versprochen, ich sage niemandem was. Worte, die er ihr eingeredet hat und an die sie sich nicht erinnert, genauso wenig wie an das, was er ihr angetan hat. Das Mädchen auf dem Eisfeld Ein Tag im Mai verändert das Leben von Adélaïde grundlegend. Obwohl sie ihren Eltern davon erzählt und die Polizei eine …

Gastbeitrag: Alina Bronskys ‘Scherbenpark’

Im letzten Herbst war ich für eine Doppelstunde in der TMS Bad Oldesloe, um angehenden Abiturient*innen etwas über das Schreiben von Rezensionen und das Literaturbloggen zu erzählen. Einige Schüler*innen haben daraufhin selbst Rezensionen geschrieben. Eine davon ist die von Merle Stoltenberg, die sich mit Alina Bronskys Scherbenpark beschäftigt hat. Manchmal denke ich, ich bin die Einzige in unserem Viertel, die noch vernünftige Träume hat. Ich habe zwei, und für keinen brauche ich mich zu schämen. Ich will Vadim töten. Und ich will ein Buch über meine Mutter schreiben. Alina Bronsky: Scherbenpark Die ersten Sätze aus dem Debütroman „Scherbenpark“ von Alina Bronsky beschreiben schon im Wesentlichen, um was es in dem Buch geht. Der Roman ist aus der Sicht der 17-jährigen russlanddeutschen Sascha Naimann geschrieben, die in einem riesigen Hochhauskomplex, genannt „Solitär“, wohnt. Ein Komplex, der hauptsächlich von Familien mit Migrationshintergrund bewohnt wird und wohl ohne Probleme als sozialer Brennpunkt bezeichnet werden kann. Die perspektivlosen Jugendlichen ertränken ihre Probleme mit Alkohol und Drogen in einem Park nahe des Solitärs, der von den Jugendlichen selbst als Scherbenpark …

Jan Drees – Sandbergs Liebe

Als die Dating-App Kristian Sandberg mit Kalina verknüpft, deutet wenig auf die Katastrophe hin, die das zufällige Aufeinandertreffen im digitalen Raum zur Folge haben wird. Rückwirkend gelesen gibt der Roman kleine Leuchtsignale: Sandbergs Zahnschmerzen sind gerade mittels provisorischer Füllung zum Schweigen gebracht worden, aus den Kopfhörern dringt das Album Borderline eines Kölner Produzentenduos. Jan Drees erzählt davon, was Menschen sich antun können im Namen von Liebe und Gemeinsamkeit und er beleuchtet die fatalen Folgen emotionaler Gewalt. Kristian ist ein mitteljunger Literaturagent auf der Suche nach einer tragfähigen, innigen Beziehung. Kalina ist Zahnärztin und, so scheint es auf den ersten Blick, eine aktive und feinfühlige Frau. Ein bisschen mystisch vielleicht, geheimnisvoll. Sie verabreden sich zum Essen, reden offen und lange. Die Anziehung, die beide füreinander empfinden, lässt sie schnell näher zusammenrücken und schon nach kurzer Zeit sagt Kalina zu Kristian: „Du darfst nie wieder gehen.“ Beide sind sie Versehrte, Bindungstraumatisierte, die im anderen etwas suchen, das sie nicht aus eigener Anschauung kennen: Geborgenheit, Akzeptanz, tiefe Verbundenheit, Liebe. Sie spielen, was es bedeutet, sich einem anderen Menschen …

Best of 2018

Das Jahr nähert sich dem Ende; es ist somit Zeit für die obligatorische Rückschau auf das im Jahr gelesene. Was hat besonderen Eindruck hinterlassen? Was wird über das Jahr 2018 hinaus im Kopf bleiben und weiterhin Schatten werfen? Ich habe mir elf Bücher herausgepickt, die mich auf ganz unterschiedliche Weise angesprochen und/oder durchgerüttelt haben. Zwei Dinge werden mir bei der Zusammenstellung klar. 1) Ich habe in diesem Jahr, ohne das zu forcieren, ziemlich viele sehr gute Bücher von Autorinnen gelesen. 2) Es waren in diesem Jahr insbesondere persönliche Geschichten, literarisch aufbereitet, die mich packen konnten und erreicht haben. Es geht oft um Menschen, die Haarsträubendes, Besonderes, Erschütterndes erlebt haben und diese Erlebnisse umwandeln in Sprache, in Erzählung, in Melodie. Das imponiert mir. Immer wieder. Aber nun zu den Büchern, die sich alle auch ausnehmend gut als Geschenke eignen, logisch! Claudia Rankine: Citizen Citizen beschreibt, mal essayistisch, mal lyrisch, mal in Form von Textcollagen einen Kampf, der nicht enden will. Aber er macht ihn in einer offenherzigen, berührenden und poetischen Art sichbar. Er adressiert ganz klar …

Gastbeitrag: Die Kamera war schuld. #dbp18

In diesem Jahr wurden erstmals offiziell fünf Lesekreise ausgewählt, die den Deutschen Buchpreis mit Diskussionen und Beiträgen begleiten durften. Nun ist der Buchpreis zwar offiziell verliehen – das Gespräch über die jeweiligen Bücher darf und kann aber ungehindert weitergehen. Es ging bei der Auswahl der Literaturkreise ziemlich international zu, von Bremerhaven über Washington D.C. nach Lübeck. Und weil ich zufällig in der letztgenannten Stadt lebe, bot sich an, Beiträge dieses Lesekreises (“Klappentext” mit Namen) auch auf meinem Blog zur Verfügung zu stellen. Dieses Mal geht es um Gert Loschütz’ Roman Ein schönes Paar. Samstagabend Ende Oktober Klappentext trifft sich zur Besprechung von Gert Loschütz‘ Roman „Ein schönes Paar“, einem der Titel der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Tradition geworden ist es bei den Treffen, für den gemeinsamen Abend kulinarische Referenzen zur Lektüre anzubieten. Es gibt diesmal ostdeutsche Hallorenkugeln, westdeutsches Gemüse und italienischen Wein. Nach dem Tod seiner Eltern begibt sich der Journalist und Fotograf Philip auf Spurensuche, um die rätselhafte und tragische Beziehung seiner Eltern zu begreifen. Herta und Georg stammen aus der DDR, siedeln …

Francis Nenik – Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert

Dass über Hasso Grabners Leben nicht schon diverse Biographien und wendungsreiche Biopics für die Leinwand existieren, wird nur durch einen allzu menschlichen, wenn auch bedauerlichen Umstand erklärlich: das Vergessen. Dass ein Mensch oder ein Werk dem gesellschaftlichen Vergessen zum Opfer fällt, hat in der Regel viele Gründe. Gut nur, dass man dieses Vergessen auch wieder rückgängig machen kann. Wüsste man nicht, dass Hasso Grabner keine Erfindung ist, man könnte Neniks Buch für einen gelungenen Schelmenroman halten. Im Mittelpunkt ein Protagonist, der von den historischen Wendungen des 20. Jahrhundert mal hier hin, mal dorthin getrieben wird und wie durch ein Wunder dem berühmten Lauf der Geschichte immer wieder ein Schnippchen schlägt, abseitige Pfade erschließt, unverschämtes Glück hat. Grabner, geboren 1911 in Leipzig, absolviert eine Buchhändlerlehre, an die er mehr zufällig gerät, weil er sich in ein Gespräch einmischt. Mit 18 schließt er sich dem kommunistischen Jugendverband an, verteilt einschlägige politische Schriften und gerät nach 1933 durch seine illegale Arbeit ins Visier der erstarkenden Nationalsozialisten. Es folgt nach einer Veurteilung ein Gefängnisaufenthalt, danach landet Grabner im KZ …

Gastbeitrag: Aufbruch in eine reduzierte Welt. #dbp18

In diesem Jahr wurden erstmals offiziell fünf Lesekreise ausgewählt, die den Deutschen Buchpreis mit Diskussionen und Beiträgen begleiten durften. Nun ist der Buchpreis zwar offiziell verliehen – das Gespräch über die jeweiligen Bücher darf und kann aber ungehindert weitergehen. Es ging bei der Auswahl der Literaturkreise ziemlich international zu, von Bremerhaven über Washington D.C. nach Lübeck. Und weil ich zufällig in der letztgenannten Stadt lebe, bot sich an, Beiträge dieses Lesekreises (“Klappentext” mit Namen) auch auf meinem Blog zur Verfügung zu stellen. In diesem Beitrag schildern Michael Stein und Andreas Mroß ihre Leseeindrücke zu Gianna Molinaris Hier ist noch alles möglich. Eine reduzierte Geschichte, nüchtern und trocken erzählt, führt die Leser*innen in eine teils groteske und absurde Welt. Gepaart mit einem erwartungsvollen Versprechen auf etwas Überraschendes, ja vielleicht sogar Großes („Hier ist noch alles möglich“) wird eine kurze Episode aus dem Leben der Protagonistin erzählt. Die Erzählerin, die alle Brücken in ihr bisheriges Leben als Bibliothekarin abgebrochen hat, heuert als Nachtwache auf einem Fabrikgelände an und erhält die Erlaubnis, dort in einem Raum zu wohnen. …

Kurz und knapp rezensiert im September.

Im September gibt es eine bunte Mischung aus Erzählungen, Wiederentdeckungen und einen “Meister” des packenden, psychologischen Krimis, der mich kalt ließ. Dennis Lehane gilt vielerorts als Meister seines Fachs, er lieferte die Buchvorlagen zu Mystic River und Shutter Island, er weiß psychologische Spannung aufzubauen und zu händeln. Sagt man so. Nun mag es sein, dass ich nur deshalb angesichts des neuen Romans nicht in Begeisterungsstürme ausbreche, weil ich seltener Krimis lese. Vielleicht liegt es aber auch ein bisschen am Roman selbst, der mit seinen über 500 Seiten eher ausladend geraten ist und sich absurd viel Zeit lässt, um in die Gänge zu kommen. Bis Seite 150 macht er diverse Handlungsstränge auf, es geht um Angstzustände der Protagonistin, um Journalismus angesichts verheerender Katastrophen, irgendwie auch um Public Shaming und eine gescheiterte Beziehung. Es passiert viel, aber nichts, was mich wirklich an den Roman bindet. Ich lese ihn am Ende irgendwie auch, weil ich wissen will, wann denn nun endlich der Betrug ins Spiel kommt, von dem auf dem Buchrücken die Rede ist. Es dauert lange. Als …

Ottessa Moshfegh – Eileen

Eileen ist jung und lebt in X-Ville, einer namenlosen Kleinstadt irgendwo in den Vereinigten Staaten, es ist 1964. Ihre Mutter ist tot, ihr Vater ein paranoider Trinker. In der Verwaltung einer Jugendstrafanstalt verdient sie ein bisschen Geld und hofft darauf, die Tristesse dieses Lebens bald hinter sich zu lassen und aus ihrem ganz persönlichen Gefängnis auszubrechen. Alles, was sie braucht, ist ein kleiner Stoß in die richtige Richtung. Eileen ist ein Mauerblümchen. Eine verschämte junge Frau, deren Zurückhaltung vor allem aus Angst entspringt. Alles ist ihr peinlich, insbesondere ihr eigener Körper und seine Funktionen. Sie fantasiert sich zwar in romantische Liebschaften mit einem Wärter des Jugendgefängnisses, in dem sie arbeitet, würde ihm aber niemals ernsthafte Avancen machen. Eileens Zuhause ist hoffnungslos zerrütet. Ihr Vater, ein ehemaliger Polizist versinkt in Alkohol und paranoiden Verschwörungstheorien über kriminelle Machenschaften und Netzwerke in der Stadt. Regelmäßig besorgt Eileen ihm den Nachschub – und fantasiert darüber, wie ihr Vater zufällig zu Tode kommen könnte. Wie ihn einer der Eiszapfen treffen könnte, die sich formschön am Rande des Vordachs gebildet haben. …

Maggie O’Farrell – Ich bin, ich bin, ich bin

Ist es die Endlichkeit, die einem Leben überhaupt erst Bedeutung und Sinn verleiht? Und wie oft sind wir dem eigenen Ende bislang entgangen, womöglich ohne es zu wissen? Maggie O’Farrell schildert Episoden ihres Lebens, in denen eben dieses Leben gefährdet war. Für wenige Sekunden und Minuten oder über lange Phasen der Krankheit. Gefährdet durch Dritte, den eigenen Leichtsinn oder den Zufall. Am Ende steht, trotz aller Konfrontation mit dem Tod, das Leben. Mit acht Jahren erkrankt Maggie O’Farrell an Enzephalitis. Sie kann nicht mehr laufen, nicht mehr sprechen, sich nicht mehr orientieren. Die Ärzte prognostizieren ein Leben als Pflegefall; vorausgesetzt es gibt ein Weiterleben. Entgegen aller Befürchtungen kämpft sich O’Farrell nicht nur aus dem Rollstuhl, sie lernt auch das Sprechen und das Schreiben wieder neu, macht unter massiv erschwerten Bedingungen am Ende einen regulären Schulabschluss. Es ist ihre erste, bewusste Begegnung mit dem Tod und der eigenen Endlichkeit. Es hätte dort schon vorbei sein können. Zu früh, zu schnell. Sie erinnert sich heute bruchstückhaft an die Hochphasen ihrer Krankheit, eingesperrt in den eigenen Körper und …