Alle Artikel in: Kurz & Knapp

Kurz & knapp, Teil 3/19.

Es ist ein Irrglaube, dass soziale Medien und neue Technologien den Extremismus erst hervorbrächten, der allenthalben auf ihnen zu sehen ist. Nichtsdestotrotz fungieren sie als Katalysatoren für Fundamentalisten, beschleunigen Radikalisierungsprozesse, geben Instrumentarium an die Hand, das es noch vor zwanzig Jahren in dieser Form nicht gab. Obwohl Fundamentalisten, ob am rechten Rand oder im islamistischen Milieu, eine rückwärtsgewandte Ideologie vertreten, machen sie sich modernste Techniken zunutze, um sie zu verbreiten. Julia Ebner (die bereits mit Wut ein Buch über die Funktionsmechanismen extremistischer Propaganda geschrieben hat) liefert in Radikalisierungsmaschinen einen Einblick in verschiedene Gruppierungen: Identitäre und die Neue Rechte, Antifeministinnen, Dschihadisten, militante Männerrechtler, ein Datingportal ausschließlich für Weiße. Sie untersucht, wie deren Medien- und Mobilisierungsstrategien funktionieren und demaskiert damit nicht nur innere Widersprüche, sondern auch interne Strategien. So gibt die Alt-Right rund um die Demonstrationen in Charlottesville die Anweisung heraus, Anhänger geringerer Attraktivität sollten lieber zuhause bleiben. Nazis sind heute adrett und gutaussehend. Wer das nicht ausstrahlt, gefährdet den Erfolg der Gruppe. Ebner macht deutlich, dass extremistische Gruppen mittels modernster Technologien den Diskurs bestimmen, obwohl sie …

Kurz & knapp, Teil 2/19.

Im zweiten Teil Kurz & knapp für dieses Jahr geht es um traumatisierende Gewalt, Herkunft, Alltagsrassismus, Verschwörungstheorien und gute Kurzgeschichten. aufgeschrieben ist ein vielstimmiges Gespräch über Gewalt und Trauma. Über das, was davon bleibt, vom “Ich”, das lange sexualisierter Gewalt – z.B. in organisierten Strukturen – ausgesetzt ist. Der Text ist dicht, drückend, in Bewegung, bildhaft und verschlungen. Man begibt sich in ihn hinein wie in einen zeitlosen Raum. H.C. Rosenblatt betreibt seit langsam Ein Blog von Vielen, zu dem u.a. auch ein Podcast gehört. Er erzählt vom Leben mit dissoziativer Identitätsstruktur, vom Überleben, vom Kampf um Autonomie und dem normierenden Blick der anderen. aufgeschrieben ist ein Destillat dieser Themen, ein Ringen um Worte für das Unaussprechliche, der Versuch, sich schreibend zu erfahren. Es gibt keine Handlung im klassischen Sinne, sondern die Perspektiven verschiedener Persönlichkeiten, die alle jeweils Teile des Traumas tragen und verkörpern. Ein wichtiges Buch über ein Thema, das breitere Aufmerksamkeit und mehr Bereitschaft zur Auseinandersetzung verdient. H.C. Rosenblatt: aufgeschrieben. edition assemblage. 96 Seiten. 15,00 €. Der Platz erschien im Original bereits 1984. …

Kurz & knapp rezensiert, Teil 1/19.

Es hat sich wieder so einiges auf meinem Schreibtisch angesammelt, von dem ich erzählen wollte. Allein Zeit und Worte fehlten mir. Deshalb jetzt: Ein frühlingshaft belebender Mix aus Romanen & Graphic Novel. Die Geschichte des männlichen Genies ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Im Rampenlicht der kluge, erfinderische Mann, dessen Geisteskraft ihn längst in unerreichbare Höhen katapultiert hat; in seinem Rücken die Frau, die ihm denselbigen frei hält. Auch wenn dieses Narrativ zunehmend hinterfragt wird, hat es lange Zeit erheblichen Einfluss darauf ausgeübt, was wir von weiblichen Perspektiven und Errungenschaften wissen. Liv Strömquist bricht in I’m every woman mit eben diesen Erzählungen, die die Frau zu einer Marginalie – oder schlimmer: zur zerstörerischen Furie – umdeuten. Anders als in Der Ursprung der Welt oder der Ursprung der Liebe geschieht das im aktuellen Band auf etwas losere, schlaglichtartige Weise. Es werden die unsäglichsten Lover der Geschichte gekürt, mit dabei Pablo Picasso (auf den auch Hannah Gadsby in ihrem Bühnenprogramm Nanette sehr ausführlich zu sprechen kommt), Albert Einstein und Edvard Munch. Strömquist zeichnet an gegen queerfeindliche und biologistische …

Kurz und knapp rezensiert im November!

In diesem Monat geht es um Ängste und deren Überwindung, das Känguru, das Schlechte und eine besondere Art der Erinnerung. Nachdem Was man von hier aus sehen kann im Jahr 2017 ein unerwartet großer Publikumserfolg wurde, hat Dumont sich entschieden, auch ältere Werke von Mariana Leky, im Design an den Bestseller angepasst, neu aufzulegen. 2004 erschien der Debütroman Erste Hilfe, der in Tonfall und Stil schon viel von dem erkennen lässt, was Leky später ausmachen wird. Im Mittelpunkt stehen Sylvester, die Erzählerin und Matilda, die eines Tages plötzlich von Panik überfallen wird, als sie versucht, eine Straße zu überqueren. Was, wenn sie plötzlich mitten auf der Straße verrückt wird? Was ist, wenn alle das sehen? Matildas Angst wird so übermächtig, dass sie kaum aus dem Haus gehen kann und auf Anraten ihrer mindestens ähnlich neurotischen Freunde professionelle Hilfe sucht. Wer bei Leky völlig realistische Schilderungen eines Lebens mit krankhafter Angst erwartet, sucht an der falschen Stelle. Erste Hilfe ist naiv erzählt, verspielt, humorvoll angesichts der schwierigen Lage. Ähnlich wie auch Was man von hier aus …

Kurz und knapp rezensiert im Oktober!

Der Oktober bringt zwei Graphic Novels mit starken weiblichen Protagonistinnen, ein düsteres Märchen vom Ende der Welt und einen Blick in das Innenleben einer Trollfabrik. Es gehört zu den erfreulichen Begleiterscheinungen der Debatten über die Marginalisierung weiblicher, queerer Perspektiven oder beschränkender Geschlechterstereotype, dass immer mehr Erzählungen aus solchen Blickwinkeln sichtbar werden. Bei Reprodukt sind in diesem Herbst gleich zwei Titel erschienen, die starke weibliche Hauptfiguren haben. Pirouetten von Tillie Walden dreht sich vor allem autobiographisch um das Suchen und Finden der eigenen Identität vor dem Hintergrund einer Sportart, die nach sehr starren, stereotypen Regeln funktioniert. Aufgewachsen in einer Familie, in der die Mutter keinen verlässlichen Ankerpunkt für Tillie bietet, beginnt sie früh mit dem Eiskunstlauf. Insbesondere wegen ihrer ersten Trainerin, deren Fürsorge für sie ein Ersatz ist für die desinteressierte Mutter, bleibt sie dabei. Je älter sie wird, desto mehr beginnt Tillie zu hinterfragen, was der Eiskunstlauf ihr wirklich bedeutet. Sie erzählt vom Erwachsenwerden, einem traumatischen Übergriff, von ihrem Coming-Out und den Schwierigkeiten, die ein Sport bedeutet, der, was Auftreten und Aussehen betrifft, für Frauen …

Kurz und knapp rezensiert im September.

Im September gibt es eine bunte Mischung aus Erzählungen, Wiederentdeckungen und einen “Meister” des packenden, psychologischen Krimis, der mich kalt ließ. Dennis Lehane gilt vielerorts als Meister seines Fachs, er lieferte die Buchvorlagen zu Mystic River und Shutter Island, er weiß psychologische Spannung aufzubauen und zu händeln. Sagt man so. Nun mag es sein, dass ich nur deshalb angesichts des neuen Romans nicht in Begeisterungsstürme ausbreche, weil ich seltener Krimis lese. Vielleicht liegt es aber auch ein bisschen am Roman selbst, der mit seinen über 500 Seiten eher ausladend geraten ist und sich absurd viel Zeit lässt, um in die Gänge zu kommen. Bis Seite 150 macht er diverse Handlungsstränge auf, es geht um Angstzustände der Protagonistin, um Journalismus angesichts verheerender Katastrophen, irgendwie auch um Public Shaming und eine gescheiterte Beziehung. Es passiert viel, aber nichts, was mich wirklich an den Roman bindet. Ich lese ihn am Ende irgendwie auch, weil ich wissen will, wann denn nun endlich der Betrug ins Spiel kommt, von dem auf dem Buchrücken die Rede ist. Es dauert lange. Als …

Kurz und knapp rezensiert im Juli!

Im Juli sitzen zwei Soldaten in einem Boot, steht eine Dorfgemeinschaft vor einschneidenden Veränderungen, erzählt von Schirach wieder Kriminalgeschichten und findet ein Schreibender zu sich selbst. Nichts in Sicht ist ein Klassiker der Nachkriegsliteratur. Gelobt von Größen wie Gottfried Benn oder Siegfried Lenz, von Reich Ranicki geadelt als “zeitgeschichtliches und künstlerisches Dokument”. Anlässlich von Rehns 100. Geburtstag (am 18.September) veröffentlicht der Verlag eine Neuausgabe mit einem Nachwort von Ursula März. Was geschieht nun also in diesem Klassiker? Ein amerikanischer Pilot und ein deutscher U-Boot Matrose treiben gemeinsam in einem Schlauchboot auf dem Atlantik. Der Zweite Weltkrieg ist noch nicht vorüber, sie müssten Feinde sein, aber bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Einer von ihnen ist schwer verletzt, die Entzündung in seinem Armstumpf schreitet rasend voran. Sie haben nichts außer Whiskey, Schokolade und Zigaretten. Umgeben von Wasser drohen sie zu verdursten. Und es ist “nichts in Sicht”, keine Rettung, kein Land, kein Mensch. Jens Rehn beschreibt das Vegetieren, das einsame Dahinsiechen in so messerscharfer Sprache, dass man unweigerlich glaubt, mit in diesem Boot zu sitzen. So intim, so unerträglich, …

Kurz und knapp rezensiert im Juni!

Nach einer längeren Blogpause geht es im Juni um die Toten und ihr Resüme, pointierte Cartoons zu Kultur- und Literaturbetrieb, Utopien und eine unverzeihliche Grenzüberschreitung. Mit Der Trafikant (ab Herbst übrigens im Kino) und Ein ganzes Leben hat Robert Seethaler bereits feinsinnige, sprachlich sehr elegante Romane geschrieben; sein neuester Wurf ist ein Chor verschiedener Stimmen “vom Feld”. Auf dem Feld werden die Toten der Kleinstadt begraben und blicken nun nach ihrem Dahinscheiden auf ihre Leben zurück. Was ist geblieben, nachdem alles zu Ende war? Gewöhnlich können wir unser Leben nur betrachten, während wir noch Teil davon sind. Wir können nicht einfach aus uns selbst und dem Alltag heraustreten. Seethalers Erzählmodus erlaubt die Außenperspektive – schließlich sind alle Berichtenden bereits tot und wissen darum. Zentrum ihrer aller Leben ist “Paulstadt”. Sie sind Gemüsehändler, unglückliche Ehepaare, Verlassene, korrumpierte Lokalpolitiker, ein wahnhafter Pfarrer, ein Postbote. Stück für Sück setzt Seethaler die Kleinstadt mittels ihrer Einwohner zusammen, die mal ernüchtert und mal befriedet auf ihr Dasein zurückblicken. Dabei geraten nicht alle Kapitel gleichermaßen plastisch, immer aber sind sie empathisch …

Kurz und knapp rezensiert im April!

Im April geht es um das Erkenntnispotential von Bestsellern, eine Kulturgeschichte der Angst und das plötzliche Einbrechen einer Erkrankung, nach der nichts mehr ist wie es war. Bestseller sind die Bücher, die sich am besten verkaufen. So weit, so simpel. Beststeller sind die Bücher, denen es gelingt, eine große Zahl von Menschen thematisch oder stilistisch anzusprechen. Da wird es schon interessanter. Muss das zwingend bedeuten, dass Bestseller ein um Ecken, Kanten und Tiefe gebrachtes Massenprodukt sind? Was viele Leser*innen anspricht, darf natürlich nicht zu experimentell und kapriziös sein, das steigert nur das Risiko, Menschen auf dem Weg zu verlieren. Die Losung aber, dass Beststeller dem kulturell Anspruchsvollen grundsätzlich nichts zu sagen hätten, geht nicht auf. Wenn man sie am Ende schon selbst nicht lesen will, kann man in ihnen wenigstens nach den Spuren kultureller und gesellschaftlicher Trends suchen, wie Jörg Magenau das in seinem kurzweilig geschriebenen Bestseller-Potpourri tut. Er begegnet dabei dem jüngeren Trend  zur Selbstoptimierung genauso wie dem Bedürfnis nach “phantastischen Gegenwelten” angesichts von Waldsterben und Anti-AKW-Bewegung. Manch ein Buch erlebt seinen größten Erfolg …

Kurz und knapp rezensiert im Dezember!

Die Weihnachtstage sind so schnell vorübergegangen wie sie gekommen sind. Bis die Silvesterfeiern allerorts das neue Jahr einläuten, habe ich nochmal vier Bücher für euch, die ich im Dezember gelesen habe. Es geht um die Welt und unsere Zukunft, eine späte Rache, Lügen, die außer Kontrolle geraten und einen Unfall, der Leben verändert. Während vielerorts noch darüber gestritten wird, ob Flüchtlinge eine Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft darstellen und ob die Rückkehr zu nationaler Unabhängigheit nicht all unsere Probleme lösen könnte; während noch debattiert wird, ob der Klimawandel real ist und wie man Arbeitslose motivieren könnte, etwas zu leisten, finden ganz nebenbei die großen Umwälzungen statt. Philipp Blom beleuchtet in seinem Essay u.a. die wahrscheinlichen Folgen des voranschreitenden Klimawandels – Migration, unbewohnbare oder gänzlich verschwundene Gebiete – sowie die gravierenden Veränderungen des Arbeitslebens durch die Digitalisierung. Der Begriff der Arbeit und ihren Stellenwert werden wir überdenken müssen angesichts einer immer rasanter fortschreitenden Technisierung. Das Ziel heißt nicht mehr quasi Vollbeschäftigung, kann nicht mehr Vollbeschäftigung heißen, wenn Maschinen immer mehr Tätigkeiten übernehmen. Wir können nicht …