Kultur, Kurz & Knapp, Rezensionen
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Kurz und knapp rezensiert im Oktober!

Der Oktober bringt zwei Graphic Novels mit starken weiblichen Protagonistinnen, ein düsteres Märchen vom Ende der Welt und einen Blick in das Innenleben einer Trollfabrik.

Es gehört zu den erfreulichen Begleiterscheinungen der Debatten über die Marginalisierung weiblicher, queerer Perspektiven oder beschränkender Geschlechterstereotype, dass immer mehr Erzählungen aus solchen Blickwinkeln sichtbar werden. Bei Reprodukt sind in diesem Herbst gleich zwei Titel erschienen, die starke weibliche Hauptfiguren haben. Pirouetten von Tillie Walden dreht sich vor allem autobiographisch um das Suchen und Finden der eigenen Identität vor dem Hintergrund einer Sportart, die nach sehr starren, stereotypen Regeln funktioniert. Aufgewachsen in einer Familie, in der die Mutter keinen verlässlichen Ankerpunkt für Tillie bietet, beginnt sie früh mit dem Eiskunstlauf. Insbesondere wegen ihrer ersten Trainerin, deren Fürsorge für sie ein Ersatz ist für die desinteressierte Mutter, bleibt sie dabei. Je älter sie wird, desto mehr beginnt Tillie zu hinterfragen, was der Eiskunstlauf ihr wirklich bedeutet. Sie erzählt vom Erwachsenwerden, einem traumatischen Übergriff, von ihrem Coming-Out und den Schwierigkeiten, die ein Sport bedeutet, der, was Auftreten und Aussehen betrifft, für Frauen sehr klare Normen definiert. Pirouetten ist sehr einfühlsam und geduldig erzählt, intim und berührend.

Katja Klengel schlägt in ihrem essayistischen Comic Girlsplaining eine ähnliche Richtung ein wie schon Liv Strömquists Der Ursprung der Welt. Klengel schickt ihr launiges Alter-Ego in einzelnen Kapiteln auf die Suche nach zu oft beschwiegenen, feministischen Themen des Alltags: Das Entdecken der eigenen Sexualität und des eigenen Körpers, Schönheitsideale, Rollenerwartungen und die Folgen, wenn man sich ihnen widersetzt. Wir halten uns gemeinhin für aufgeklärt und liberal, als seien wir längst am Ende der Reise. Wie sehr uns aber starre Konzepte von Geschlechterrollen und die Art, wie wir über Körper, insbesondere weibliche, sprechen, noch immer beeinflussen, macht Katja Klengel deutlich. Das tut sie sehr humorvoll, offen und unverkrampft. Nur so werden am Ende auch Tabus aufgebrochen, Gespräche eröffnet. Katja Klengels Comic hat das Potential jungen Frauen Mut zu machen, von den ausgetretenen Pfaden abzuweichen. Zu sich zu stehen, zu ihren Leidenschaften, ihren Hobbies, ihrem Körper. Sich von Erwartungen zu emanzipieren, die, implizit oder explizit, in gesellschaftlichen Kontexten überall unentwegt an sie herangetragen werden. So lange es – exemplarisch an dieser Stelle genannt – noch immer heftigen Gegenwind insbesondere männlicherseits gibt, wenn Frauen öffentlich z.B. über Menstruation sprechen (“Ih! Eklig! Total pervers, darüber zu reden!”), mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass Hygieneartikel für Frauen noch immer dem normalen Mehrwertsteuersatz unterliegen, ist es noch ein weiterer Weg. Girlsplaining leistet einen lesenswerten Beitrag dazu.

Tillie Walden: Pirouetten. Aus dem Englischen von Sven Scheer. Reprodukt Verlag. 400 Seiten. 29,00 €.
Katja Klengel: Girlsplaining. Reprodukt Verlag. 160 Seiten. 18,00 €.

Ein Dorf irgendwo im Hinterland. Zwei Mädchen, deren Mutter von einem Tag auf den anderen spurlos verschwindet. In Warten auf Schnee erzählt Karoline Menge von einer Dorfgemeinschaft, die aus ungeklärten Gründen auseinanderfällt. Was zunächst klingt wie eine typisch gegenwärtige, realistische Geschichte verödender Landstriche in der Peripherie, entwickelt sich zu einem düsteren Schauermärchen mit Horrorelementen. Die Bewohner*innen des Dorfes verschwinden, ziehen nicht einfach um, sondern lassen ihre Habseligkeiten zurück, niemand sieht sie gehen. Die Grenze des Dorfes scheint die Grenze der Welt zu sein, niemand weiß genau, was hinter den Hügeln und dem Wasserturm liegt. Pauli und Karine, am Ende die einzigen Kinder und beinahe die letzten Menschen im Dorf, versuchen zu erkunden, was geschehen ist. Sie steigen in verlassene Häuser ein, finden dabei allerlei Erschreckendes und Gruseliges. Karoline Menge baut in diese Geschichte der schleichenden Auflösung immer wieder übersinnliche Elemente ein: Insekten, die niemand sehen kann, aber die sich der Dorfbevölkerung vor ihrem Verschwinden bemächtigen als sei sie bereits verschieden. Eine Horde Spinnen, die den Familienhund anfallen und wesensverändert zurücklassen. Bewusstseinszustände zwischen Traum und Realität. Eine zweifelhafte Geistesverfassung der verschwundenen Mutter. Das alles ist atmosphärisch, bedrückend, fast ein bisschen klaustrophobisch, aber auch sehr vage. Denkbar, dass ich Wesentliches nicht verstanden habe. Am Ende aber klappe ich den Roman zu und frage mich: Was ist eigentlich passiert? Und warum? Meine Fragen bleiben unbeantwortet.

Karoline Menge: Warten auf Schnee. Frankfurter Verlagsanstalt. 200 Seiten. 20,00 €.

Das Wort “hochaktuell” wird gerade in Rezensionen gern überstrapaziert. Hier aber will ich es, in vollster Überzeugung seiner Angemessenheit, einfach dennoch verwenden. In Troll erzählt Michal Hvorecky von einer nahen Zukunft in Osteuropa. Die Menschen leben in einem totalitären System, dessen Informationspolitik längst nicht mehr auf Fakten beruht, sondern den Wert einer Meldung an der Aufmerksamkeit bemisst, die sie reagiert. Der Protagonist, ein übergewichtiger Sonderling, der schon früh mit gesundheitlichen Problemen kämpft, weil seine Eltern ihn nie haben impfen lassen, trifft im Krankenhaus auf eine junge, drogenabhängige Frau. Die beiden freunden sich an und beschließen, eine Trollfabrik von innen heraus zu zersetzen. Beide schleusen sich in eine der bekanntesten Fabriken ein und erschaffen von da an Falschmeldungen am Fließband. Sie mnaipulieren, erfinden, diffamieren, beleidigen und sind atemberaubend erfolgreich damit. Aus dem Auge des Sturms, den sie entfesseln, beobachten sie die Erosion der Gesellschaft in rivalisierende, aufgehetzte Kleinstgruppen. Es gelingt ihnen sogar, ihre Falschmeldungen bei ehemals seriösen Nachrichtensendern zu platzieren. Niemanden kümmert mehr, was wahr ist, wenn es sich wahr anfühlt. Je tiefer sie Abtauchen in die Welt der Trolle, desto zweifelhafter wird, ob sie den Absprung schaffen. Michal Hvoreckys Roman ist ein beklemmendes Szenario, das vor allem deshalb Angst auslöst, weil es so plausibel ist. Troll entwirft das Bild einer Gesellschaft, in der grundlegende Werte und Bezugsgrößen nicht mehr gelten, in denen es weder ein funktionierendes Informationswesen gibt noch ein adäquates Gesundheitssystem oder einen funktionierenden Polizeiapparat. Gezeigt wird eine Gesellschaft, die angetrieben wird vom Hass, den einzelne – aus Abenteuerlust, aus Geldgier, aus dem Gefühl einer Notwendigkeit heraus – säen und verbreiten. Hvorecky hat den Roman geschrieben zum “postfaktischen” Zeitalter. Rasant, pointiert und ja, ganz ehrlich, ziemlich beängstigend.

Michal Hvorecky: Troll. Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch. Tropen Verlag. 215 Seiten. 18,00 €

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