Mit “Aus der Zuckerfabrik” ging die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger nicht nur ins Rennen um den Deutschen Buchpreis, sie ist auch für den Bayerischen Buchpreis nominiert. Ich war sehr gespannt, es im Rahmen des letzteren Preises zu lesen und bin schlussendlich leider am Text gescheitert.
“Martin, der Lektor, sagt, im Falle einer Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen müsse auf jeden Fall ,Roman‘ auf dem Umschlag stehen”, heißt es in einem der Dialoge zwischen der Erzählerin und einer Außenstehenden. Einen Roman, das ist unstrittig, hat Dorothee Elmiger nicht geschrieben, das Etikett allerdings verhilft oft gerade bei experimentelleren Texten zu mehr Aufmerksamkeit. Unter ,Roman‘ mag sich eine*r eine einigermaßen kongruente Geschichte vorstellen. “Aus der Zuckerfabrik” aber ist ein hybrider, ein mäandernder Text. Er ist Essay, Gegenwartsbetrachtung, Collage, Recherche. Er legt sich nicht fest, er ist vor allem Gleichzeitigkeit von Eindrücken und Ideen. Oder wie es der Text selbst sagt: “Es handelt sich eher um flackernde, schwierige Konstruktionen, denke ich, um dunkle Strudel, in denen sich mit ohrenbetäubendem Lärm alles, also auch alles Periphere, für immer um ein instabiles Zentrum dreht.”
Dieses instabile Zentrum könnten die roten Fäden sein, die sich durch die disparaten Überlegungen ziehen und alles lose miteinander verbinden. Hunger und Gier etwa spielen in vielen Miniaturen eine Rolle, oft in Verbindung mit Zucker, der stellvertretend gelesen werden kann für die Maßlosigkeit von Menschen oder Gesellschaften. Nicht umsonst reden wir von Zucker immer wieder auch als eine Art Droge, in zahllosen Lebensmitteln verstecken sich Zucker oder seine Ersatzstoffe, selbst dort, wo wir es nicht vermuten. Zucker aber muss gewonnen werden, etwa aus Zuckerrohr und so schwenkt Elmiger immer wieder auch zu den Bedingungen seiner Produktion, gegenwärtig, aber auch historisch. Es geht um Ausbeutung, Kolonialismus, Unterdrückung, gescheiterte Auflehnung.
Gier als Zeichen der Maßlosigkeit ist nur eine Facette, die Elmiger in den Blick nimmt. Sie kreist immer wieder um das Thema der Entäußerung und des Heraustretens aus sich selbst mittels Ekstase und – im wahrsten Sinne des Wortes – Selbstvergessenheit. Ein Zustand, den viele anstreben und der in vielen Regungen zu finden ist – so auch in der Liebe, in der Religion, in der Ideologie. “Aus der Zuckerfabrik” montiert Überlegungen, Miniaturen, Zitate aneinander, erzählt von einem Arbeiter mit einem T-Shirt, auf dem “My skills never end” steht und Lottogewinner Werner Bruni, der sein Vermögen wieder verlor. “Das Kapital ist nicht eine Sache, sondern ein durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen”. Elmiger interessieren Spaltungen, zwischen Menschen, zwischen Gruppen, zwischen Ideen. Gerade heute, wo wir immer wieder über Spaltung als gesellschaftliche Diagnose sprechen, ist die Frage angebracht: Sind Spaltungen und ihre Vertiefungen systemimmanent? Können wir sie überhaupt überwinden, wenn sie eingeschrieben sind in unser Miteinander? Wie können wir wieder in Verbindung kommen und was bedeutet Verbundensein? Ironisch, wie unverbunden wir in einer globalisierten Welt sein können.
“Ich sehe überall Zeichen und Zusammenhänge, als hätte ich eine Theorie von allem gefunden”, heißt es im Text, automatisch an die Grundlage jedes Verschwörungsdenkens erinnernd. Tatsächlich habe ich selbst mich schwer damit getan, Halt in diesem Text zu finden. Damit meine ich freilich nicht den kontemplativen Halt des entspannten Konsumierens, sondern die bloße Orientierung in einem Meer aus Fragmenten. Bestimmt ist der Text wahnsinnig ambitioniert und bestimmt habe ich auch diverse kompositorische Entscheidungen und Anspielungen nicht in der Tiefe durchdrungen – aber wir sind nicht warm geworden miteinander. Wenn man so will, ist diese Haltlosigkeit in Fragmenten und Informationsschnipseln literaturgewordene Welterfahrung, so ergeht es ja am Ende doch jedem, der versucht, die Welt zu verstehen. Aber eben viel ich diese Erfahrung sonst schon dauernd mache, brauche ich sie vielleicht nicht in literarisierter Form. Ich beende den Text, “das Gestrüpp”, und bin ratlos. Er hat mich nicht erreichen können.
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik. Hanser. 272 Seiten. 23,00 €.