Klassiker, Rezensionen
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#klassikerlesen mit Cornelsen: Die Verwandlung

Auf Instagram habe ich es angekündigt: Ich möchte mich in diesem Jahr, in Kooperation mit dem Cornelsen-Verlag, mit ausgewählten Klassikern beschäftigen. Sowohl mit solchen, die ich in der Schule gelesen habe als auch mit solchen, die ich längst hätte lesen wollen und sollen. Hat sich mein Blick auf die Lektüre verändert, wenn es eine neuerliche Lektüre ist? Sehe ich jetzt etwas am Text, das ich früher nicht gesehen habe? Weshalb ist es noch immer lohnenswert, diesen oder jenen Text zu lesen?

Kafka ist nicht einfach nur Kafka. Kafka ist Popkultur. Kafka ist Gegenstand von Memes, Comic Strips, Serien und Karikaturen, die besonders häufig Bezug auf „Die Verwandlung“ nehmen – fast so, als sei Kafka mittlerweile untrennbar mit Käfern verbunden. Kafkaesk ist ein Begriff für das unerklärlich Absurde und komplexe Machtstrukturen, die in vielen seiner Texte Einfluss auf die Geschicke der Protagonisten nehmen, ohne dabei selbst in Erscheinung zu treten. Der Duden führt als Synonym zu kafkaesk den Begriff unheimlich und obwohl das sicherlich zutrifft, ist es nur die halbe Geschichte. Kafkas Erzählungen und Romane sind keine Gruselgeschichten, in ihnen steckt immer eine existentielle Ohnmacht, ein namenloses Grauen, wie ein Schatten, den man nur im Augenwinkel sieht – denn eigentlich sieht alles ganz normal aus.

 

© Bernd Zeller, 2012

So auch in „Die Verwandlung“, einer Erzählung, die Kafka 1912 schreibt. Im Mittelpunkt steht Gregor Samsa, der eines Morgens „aus unruhigen Träumen“ unerklärlicherweise nicht als Mensch, sondern als Käfer erwacht. Samsa ist Handlungsreisender, Vertreter für Stoffe und er soll an diesem Morgen eigentlich wieder in den Zug steigen. Während er sich noch langsam mit seinem neuen Körper und dessen Funktionsweise vertraut macht, klopft es an seiner Zimmertür. Es ist die Mutter, die sich nach seinem Befinden erkundigt; ihm sei nicht wohl, antwortet Gregor. Nur wenig später erscheinen auch der Vater und der firmeneigene Prokurist vor der Tür, um auf Samsa einzuwirken. Obwohl er in seiner Zeit als Vertreter niemals krank war, wird ihm nun unterstellt, er würde simulieren und sich vor der Arbeit drücken wollen. Da die Zimmertür verschlossen ist, kann sich niemand ein Bild von der tatsächlichen Lage machen und als es Gregor schließlich gelingt, mit seinem Käferkörper die Tür zu öffnen, sind alle Beteiligten starr vor Schreck. Gregors Schwester Grete ist zunächst die einzige, die ihre (Ab)Scheu überwindet und dem Bruder Essen bringt. Um ihr seinen Anblick zu ersparen, huscht Gregor stets unter ein Kanapee, wenn sie den Raum betritt. Er nimmt seine Umwelt wahr wie zuvor, umgekehrt aber scheinen alle Brücken abgebrochen.

Ein Käfer auf Freuds Couch, © Jirí Slíva

Fungiert Grete zu Beginn noch als Verbündete (sie versorgt ihren Bruder mit dem Nötigsten und putzt sein Zimmer), kippt das Verhältnis nach einem Streit und einer Verletzung Gregors schließlich in die Gleichgültigkeit. Gregor hat in Menschengestalt mit seinem Beruf die Familie versorgt und mit seiner unfreiwilligen Metamorphose verschieben sich nun zwangsläufig die Koordinaten. In eine anscheinend normal funktionierende Welt ist plötzlich ein grotesker Vorfall hereingebrochen, der sich weder erklären noch rückgängig machen lässt. Gregor stirbt (Spoiler Alert) am Ende vereinzelt, ausgestoßen, entfremdet. Man könnte Ähnliches über den „modernen Menschen“ sagen, wie er zum Zeitpunkt von Kafkas Erzählung verstanden wurde. Die Lebenswelt vieler Menschen änderte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend und diese fundamentalen Veränderungen betrafen nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch private Familienstrukturen oder die eigene Identität. Es gibt diverse Interpretationsansätze der Verwandlung Gregor Samsas, begonnen bei dem bekannten Konflikt zwischen Kafka und seinem Vater (nachzulesen in Brief an den Vater) bis hin zu den ausbeuterischen Lebensverhältnissen, die Gregor bis zur totalen Selbstaufgabe treiben.

© Judy Horacek

Ich erinnere mich nicht an meine erste Lektüre der Verwandlung, wohl aber daran, immer fasziniert von Kafkas Erzählungen gewesen zu sein. Oft gar nicht vorrangig davon, was er erzählt, sondern wie er es erzählt und welche Atmosphäre damit verbunden ist. Kafkas Horror ist ein anderer Horror als der eines Edgar Allen Poe. Kafkas Horror kommt auf leisen Sohlen und ist deshalb nur umso eindringlicher. Kafkas Horror hat kein Gesicht. Gregor Samsa kann sich bei niemandem darüber beschweren, was mit ihm geschehen ist. Der Landvermesser in Kafkas Roman Das Schloss erreicht niemals das Schloss, um seinen Auftrag auszuführen und kann sich bei niemandem darüber beklagen. Josef K. in Der Prozess weiß nicht, weshalb er verhaftet und vor Gericht gestellt werden soll, “jemand musste Josef K. verleumdet haben”, heißt es nur lapidar. Wie lässt sich gegen eine unsichtbare Übermacht kämpfen? Ich kann behaupten, dass ich mit kurzen Erzählungen im Deutsch-Leistungskurs Kafka-Fan geworden und danach geblieben bin. Wem das Leben hin und wieder absurd erscheint, widersinnig, undurchdringlich oder bizarr, der wird in Kafkas Erzählungen etwas entdecken, das widerhallt. Unsere Welt ist seit 1912 nicht weniger seltsam geworden, im Gegenteil. Die Verwandlung ist ein wunderbarer Einstieg. Auf Twitter gibt es übrigens einen Gregor-Samsa-Bot, der den ersten Satz der Verwandlung “Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er … .” mit diversen anderen Enden versieht.

© Franz Kafka interviewing Gregor Samsa and Friend, 1915

“Die Verwandlung” ist Teil der Literathek: dort erscheinen zahlreiche Klassiker mit Anmerkungen und Glossar sowie wissenswerten Hintergründen zu Werk, Autor*in und Genre.

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