Alle Artikel in: Romane

Rezensionen zu zeitgenössischen Romanen

Dorothee Elmiger – Aus der Zuckerfabrik #baybuch

Mit “Aus der Zuckerfabrik” ging die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger nicht nur ins Rennen um den Deutschen Buchpreis, sie ist auch für den Bayerischen Buchpreis nominiert. Ich war sehr gespannt, es im Rahmen des letzteren Preises zu lesen und bin schlussendlich leider am Text gescheitert. “Martin, der Lektor, sagt, im Falle einer Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen müsse auf jeden Fall ,Roman‘ auf dem Umschlag stehen”, heißt es in einem der Dialoge zwischen der Erzählerin und einer Außenstehenden. Einen Roman, das ist unstrittig, hat Dorothee Elmiger nicht geschrieben, das Etikett allerdings verhilft oft gerade bei experimentelleren Texten zu mehr Aufmerksamkeit. Unter ,Roman‘ mag sich eine*r eine einigermaßen kongruente Geschichte vorstellen. “Aus der Zuckerfabrik” aber ist ein hybrider, ein mäandernder Text. Er ist Essay, Gegenwartsbetrachtung, Collage, Recherche. Er legt sich nicht fest, er ist vor allem Gleichzeitigkeit von Eindrücken und Ideen. Oder wie es der Text selbst sagt: “Es handelt sich eher um flackernde, schwierige Konstruktionen, denke ich, um dunkle Strudel, in denen sich mit ohrenbetäubendem Lärm alles, also auch alles Periphere, für immer um ein instabiles Zentrum …

Jasmin Schreiber – Marianengraben

Paulas kleiner Bruder Tim ist gestorben. Bei einem Urlaub mit den Eltern ist er, der „Meeresforscher“, im Meer ertrunken. Und nichts ist mehr wie es war. Jasmin Schreiber erzählt in Marianengraben zwar von Tod und Abschiednehmen, gleichzeitig aber genauso sehr vom Leben – das eine lässt sich nicht vom anderen trennen. 11000 Meter ist der Marianengraben tief. Darin nicht nur die tiefste Stelle des Weltmeeres, sondern zahllose unentdeckte Tierarten zweifelhafter Schönheit. Dort, wo das Sonnenlicht niemals ankommt, leuchten und blinken biolumineszente Lebewesen in der Dunkelheit. Für Paula ist der Marianengraben ein Sinnbild ihrer Trauer: tief, düster, allumfassend. Sie fühlt sich wie ein Fallen an in 11000 Meter Tiefsee. Nur folgerichtig, dass die Kapitel in Marianengraben Kilometerzahlen sind. Stück für Stück steigt Paula wieder an die Oberfläche. Zunächst aber sitzt sie beim Therapeuten und spricht mit ihm über Nudeln, weil sie alles andere nicht in Worte fassen kann. Der Therapeut rät ihr, den Friedhof aufzusuchen, wenn kein anderer dort ist und obwohl Paula das absurd erscheint, beherzigt sie den Ratschlag. Mit einer Trittleiter im Schlepptau bricht …

Michael Kumpfmüller – Ach, Virginia

Einige Jahre nach Michael Kumpfmüllers erfolgreichem Roman Die Herrlichkeit des Lebens, in dessen Mittelpunkt Franz Kafka stand, erscheint nun erneut ein Text, der um das Leben einer Schreibenden kreist. Protagonistin ist diesmal Virginia Woolf. „L. macht die Rhododendren …“ ist der letzte Satz, den Virginia Woolf vor ihrem Tod im März 1941 zu Papier bringt. Wenige Tage später wird sie sich das Leben nehmen, in einem Fluss nahe ihres Hauses. Michael Kumpfmüller rekonstruiert in Ach, Virginia nun die letzten zehn Tage ihres Lebens. In einer Mixtur aus Außen- und Innenperspektive folgt er Woolf in die tiefe Depression und die Zerrissenheit, die sie immer wieder heimgesucht haben. Kumpfmüller wählt dafür einen Tonfall, der mit dem von Woolf (ausgehend von ihren überlieferten Tagebuchaufzeichnungen) durchaus vergleichbar ist: poetisch, ironisch, manchmal beißend im Ton, unstet, hadernd und kreisend um Themen und Menschen, die die Schriftstellerin zeitlebens geprägt haben. Da und dort zitiert Kumpfmüller auch direkt aus Woolfs Notizen. Offenbar steht es doch schlimmer um sie, als sie gedacht hat. Sie ist ernsthaft krank, in ihrem Kopf ist jede Menge …

Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

Max, Reik, Tonio und Pega fahren für ein Wochenende ins ländliche Brandenburg. Was eigentlich als harmonische Zusammenkunft anlässlich Max und Reiks langjähriger Partnerschaft gedacht ist, wird zu einer Kette von Ereignissen, die die Koordinaten für alle verändert. Kintsugi steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019. Sie könnten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein. Max als ordnungsliebendes Kind einer Hippiekommune, Reik als weltberühmter Künstler aus problematischem Elternhaus, Tonio als Sohn italienischer Immigranten und Pega, Tonios Tochter, die zwar ohne Mutter, aber mit den drei Männern als Familie aufgewachsen ist. Max und Reik sind nun zwanzig Jahre ein Paar und wollen das mit einem Aufenthalt in ihrem Wochenendhaus feiern. In dieser räumlich begrenzten Situation brechen nun aber Konfliktlinien zwischen den Protagonisten auf, die lange unausgesprochen geblieben sind. Max fühlt sich, trotz aller oberflächlichen Harmonie, eher als Beiwerk und Stützpfeiler in Reiks kometenhafter Karriere. Tonio trauert noch immer Reik hinterher, mit dem ihn in Jugendjahren eine Partnerschaft verband. Pega (von allen nur, etwas gruselig, “Kniefte” genannt) glaubt, dass sie Tonio ein Klotz am Bein ist. Reik …

Isabel Bogdan – Laufen

Eine Frau läuft. An der Alster entlang und überholt von passionierten Langstreckenläufern mit Tracking-Gadgets versucht sie, in der Bewegung den Verlust zu begreifen, den sie gerade erlitten hat. Laufen ist ein Bewusstseinsstrom und die Rückeroberung eines Lebens. Laufen, so heißt es immer wieder, ordnet die Gedanken. Ein absichtsloses Spazieren ebenso wie die Fortbewegung im Laufschritt. Die Bewegung gibt den Rhythmus vor und Gedanken können ungehindert fließen. Von Ordnung ist in den Gedanken von Isabel Bogdans Protagonistin zunächst wenig zu spüren. Es ist lange her, dass sie zuletzt gelaufen ist. Jetzt versucht sie das Laufen zu nutzen, um mit sich selbst in inneren Dialog zu treten. Unlängst hat ihr Partner sich das Leben genommen. Alles ist überschattet von dieser Katastrophe, die zu viele Fragen hinterlassen hat, um sie jemals zu beantworten. Die Protagonistin wusste von seiner Depression, deren Ausmaß als Krankheit sie erst wirklich zu begreifen beginnt, als es zu spät ist. Sie macht sich Vorwürfe. Das Leid des Partners nicht bemerkt zu haben, keine ausreichende Stütze gewesen zu sein. Sie ist wütend, dass er sie …

Mareike Fallwickl – Das Licht ist hier viel heller

In Das Licht ist hier viel heller erzählt Mareike Fallwickl von Macht und ihrem Missbrauch, von Grenzverletzungen und Selbstverliebtheit, von Schönheitsidealen und Rollenbildern. Es ist ein Roman, in dem zeitgenössische Debatten kulminieren. Maximilian Wenger ist ein ziemlich toller Hecht. Der potenteste Fisch im Teich, Bestsellerautor und Lebemann; nur vorübergehend in einer Sinn- und Schaffenskrise. Seine letzten Romane sind gescheitert, Literaturblogger*innen haben ihn verhöhnt, das Feuilleton höflich ignoriert. Zu allem Überfluss hat seine Frau ihn wegen seiner Affären für einen jüngeren Fitness-Guru aus der Schweiz verlassen. Es könnte besser laufen, aber Wenger wäre nicht Wenger, wenn er nicht trotzdem unerschütterlich an die eigene Grandiosität glauben würde; selbst dann noch, als seine Schwester Elisabeth ihm in Tupperdosen das Essen vorbeibringt. Als er plötzlich Briefe von einer Frau erhält, die an seinen Vormieter adressiert sind, beginnt etwas ins Rollen zu geraten. In abwechselnden Kapiteln erzählt der Roman nicht nur von Wengers spektakulärem Comeback auf Kosten einer Fremden, sondern auch von dessen Kindern Zoey und Spin. Die haben seit jeher von ihren Eltern nicht viel gesehen. Der Vater als …

Frank Rudkoffsky – Fake

Max ist ein Schreikind. Nach seiner Geburt beginnt für Sophia und Jan ein Leben auf Zehenspitzen, jede ruhige Minute ist ein Geschenk, jede Stunde Schlaf eine Seltenheit. Sophia hat vorübergehend ihren guten Job bei Daimler aufgegeben, Jan ist freier Journalist mit zu wenig Aufträgen. Das Internet wird für beide der Ort, an dem sonst Verschwiegenes schließlich sichtbar wird. Was treibt einen Internet-Troll an? Was veranlasst Menschen, ein ganzes Leben oder eine lebensbedrohliche Krankheit zu erfinden? Das Internet im Allgemeinen und soziale Medien im Speziellen bieten zahllose Möglichkeiten, mit Identitäten und Biographien zu spielen. Manchmal ist es bereits die Liebe zum Spiel allein, die als Antrieb für Lügengeschichten dient. Manchmal ist es aber auch eine Lebenssituation, die so ohnmächtig macht, dass sie mit Macht und Kontrolle kompensiert werden muss. Als Sophia Max bekommt, ändert sich ihr Leben schlagartig. Max ist das Zentrum ihrer Welt, sein exzessives Schreien raubt ihr den letzten Nerv. Erst sind es nur kleine Sticheleien in Internetforen für Eltern, die Sophia aus Wut über Besserwisserinnen und Übermütter absetzt. Stück für Stück aber wird …

#buchpreisbloggen. Eva Schmidt: Die untalentierte Lügnerin

Maren kehrt nach einem gescheiterten Schauspielstudium und einem anschließenden Klinikaufenthalt zu ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zurück. Konflikte, die unausgesprochen unter der Oberfläche schwelen, lassen die familiäre Fassade Stück für Stück auseinanderbrechen. Marens Freundin Lisa habe sich immer gewünscht, in einem so schönen Haus am See zu wohnen, heißt es im Roman. Maren habe es gut. Wie sie da so lebe zwischen Loungesesseln, teurem Sekt und bodentiefen Fenstern mit Blick auf die idyllische Natur. Innerhalb von Marens Familie ist wenig idyllisch. Ihre Mutter Vera ist eine erfolglose aber vielbeschäftigte Künstlerin mit eigenem Atelier, die für ihre Tochter wenig Wärme und Fürsorge erübrigen kann. Ihr Stiefvater Robert ist ein unangenehm diffuser Charakter, der immer wieder zwischen Unterstützung und Grenzüberschreitung changiert. Er bietet Maren eine seiner Wohnungen an, lässt sie einziehen, als die Spannungen mit der Mutter unerträglich werden, taucht immer wieder auf mit Geschenken und Geschichten, die die Beziehung zwischen ihm und Vera in einem anderen Licht erscheinen lassen. Sie sollte duschen. Stattdessen setzte sie sich neben die leicht geöffnete Terrassentür, trank Tee und rauchte. Wünschte …

Anselm Neft – Die bessere Geschichte

Tilman Weber ist sensibler als seine Altersgenossen und wird nicht selten von ihnen dafür verspottet. Nachdem seine Mutter sich das Leben genommen hat, wächst er allein bei seinem Vater auf. Der kümmert sich zwar bestens um Tilmans Bildung, dafür weniger um dessen Ängste und Nöte. Als eine neue Frau mit reformpädagogischen Neigungen in sein Leben tritt, reift der Entschluss, den dreizehnjährigen Tilman in der „Freien Schule Schwanhagen“ unterzubringen – einer „Art Terrorzelle“ aus der Sicht konservativer Lehrkräfte. Alles ist anders an der FSS nahe der Ostsee. Die Kinder und die Lehrkräfte sollen keine Opponenten sein, sondern auf Augenhöhe Erfahrungen austauschen. An einem Ort, wo das klassische Machtgefälle zwischen Schülern und Lehrern aufgelöst werden soll, etabliert es sich hinter der Fassade reformerischen Glanzes auf viel perfidere Weise neu. Die fiktive “Freie Schule Schwanhagen”, von Anselm Neft nach dem Vorbild der Odenwaldschule konzipiert, besteht aus verschiedenen Häusern, denen jeweils eine Lehrkraft vorsteht und dessen Bewohnern sie in besonderer Weise Förderung ermöglicht. Der Unterricht wird frei gestaltet, die Schüler sollen sich ausprobieren. Jeder so wie er kann und …