Alle Artikel in: Rezensionen

Dorothee Elmiger – Aus der Zuckerfabrik #baybuch

Mit “Aus der Zuckerfabrik” ging die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger nicht nur ins Rennen um den Deutschen Buchpreis, sie ist auch für den Bayerischen Buchpreis nominiert. Ich war sehr gespannt, es im Rahmen des letzteren Preises zu lesen und bin schlussendlich leider am Text gescheitert. “Martin, der Lektor, sagt, im Falle einer Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen müsse auf jeden Fall ,Roman‘ auf dem Umschlag stehen”, heißt es in einem der Dialoge zwischen der Erzählerin und einer Außenstehenden. Einen Roman, das ist unstrittig, hat Dorothee Elmiger nicht geschrieben, das Etikett allerdings verhilft oft gerade bei experimentelleren Texten zu mehr Aufmerksamkeit. Unter ,Roman‘ mag sich eine*r eine einigermaßen kongruente Geschichte vorstellen. “Aus der Zuckerfabrik” aber ist ein hybrider, ein mäandernder Text. Er ist Essay, Gegenwartsbetrachtung, Collage, Recherche. Er legt sich nicht fest, er ist vor allem Gleichzeitigkeit von Eindrücken und Ideen. Oder wie es der Text selbst sagt: “Es handelt sich eher um flackernde, schwierige Konstruktionen, denke ich, um dunkle Strudel, in denen sich mit ohrenbetäubendem Lärm alles, also auch alles Periphere, für immer um ein instabiles Zentrum …

#klassikerlesen mit Cornelsen: Jugend ohne Gott.

Auf Instagram habe ich es angekündigt: Ich möchte mich in diesem Jahr, in Kooperation mit dem Cornelsen-Verlag, mit ausgewählten Klassikern beschäftigen. Sowohl mit solchen, die ich in der Schule gelesen habe als auch mit solchen, die ich längst hätte lesen wollen und sollen. Hat sich mein Blick auf die Lektüre verändert, wenn es eine neuerliche Lektüre ist? Sehe ich jetzt etwas am Text, das ich früher nicht gesehen habe? Weshalb ist es noch immer lohnenswert, diesen oder jenen Text zu lesen? Mein altes Suhrkamp-Exemplar von „Jugend ohne Gott“ stammt mutmaßlich von irgendeinem Bücherflohmarkt. Es steht seit Jahren – ich muss es zugeben – ungelesen in meinem Regal. In dem Bewusstsein, dass es ein Buch ist, das man kennen und gelesen haben müsste. Als ich es in einer Kiste auf dem Flohmarkt fand, kannte ich den Namen Ödön von Horváth, auch „Jugend ohne Gott“ war mir als Titel ein Begriff, ohne viel darüber zu wissen. Vor diesem Hintergrund habe ich gern zugestimmt, für Cornelsen diesen Klassiker zu lesen. Keine Re-Lektüre diesmal, sondern eine Erstlektüre, für die …

Max Czollek – Gegenwartsbewältigung

Mit Desintegriert euch schrieb der Lyriker und Theatermacher Max Czollek 2018 einen vielbeachteten Essay über das sogenannte Gedächtnistheater und die festgeschriebene Rolle jüdischer Menschen innerhalb der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Gegenwartsbewältigung, auch Titel einer Lesereihe im Berliner Maxim Gorki Theater, wirft nun, mit Rückbezug auf Thesen des Vorgängerbuches, einen Blick auf gesellschaftliche und künstlerische Bewältigungsstrategien angesichts aktueller Krisen. Wie kann Solidarität in einer Gesellschaft gelingen, in der Menschen sich zunehmend vor allem mit denen solidarisieren, die genauso sind wie sie? Wie kann Kunst aussehen, die ihre Entstehungsbedingungen reflektiert und an aktuelle Diskurse anschließt? Was kann Kunst überhaupt leisten in diesen Tagen? Wenn die gegenwärtige Pandemie uns eines gezeigt hat, dann ist es die Tatsache, dass vieles politisch möglich ist, wenn ein unbedingter Wille zur Umsetzung existiert. Innerhalb kürzester Zeit wurden Milliarden ausgegeben, um die Auswirkungen des Lockdowns abzufedern. Es wurden Maßnahmen ergriffen, die tief in unser aller Alltagsleben eingreifen, um besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen vor einer Infektion zu schützen. Warum war all das so schnell umsetzbar, während andere Brandherde seit Jahren schwelen, ohne einen Bruchteil dieser Aufmerksamkeit zu …

#klassikerlesen mit Cornelsen: Die Verwandlung

Auf Instagram habe ich es angekündigt: Ich möchte mich in diesem Jahr, in Kooperation mit dem Cornelsen-Verlag, mit ausgewählten Klassikern beschäftigen. Sowohl mit solchen, die ich in der Schule gelesen habe als auch mit solchen, die ich längst hätte lesen wollen und sollen. Hat sich mein Blick auf die Lektüre verändert, wenn es eine neuerliche Lektüre ist? Sehe ich jetzt etwas am Text, das ich früher nicht gesehen habe? Weshalb ist es noch immer lohnenswert, diesen oder jenen Text zu lesen? Kafka ist nicht einfach nur Kafka. Kafka ist Popkultur. Kafka ist Gegenstand von Memes, Comic Strips, Serien und Karikaturen, die besonders häufig Bezug auf „Die Verwandlung“ nehmen – fast so, als sei Kafka mittlerweile untrennbar mit Käfern verbunden. Kafkaesk ist ein Begriff für das unerklärlich Absurde und komplexe Machtstrukturen, die in vielen seiner Texte Einfluss auf die Geschicke der Protagonisten nehmen, ohne dabei selbst in Erscheinung zu treten. Der Duden führt als Synonym zu kafkaesk den Begriff unheimlich und obwohl das sicherlich zutrifft, ist es nur die halbe Geschichte. Kafkas Erzählungen und Romane sind …

#klassikerlesen mit Cornelsen: Der Schimmelreiter

Auf Instagram habe ich es angekündigt: Ich möchte mich in diesem Jahr, in Kooperation mit dem Cornelsen-Verlag, mit ausgewählten Klassikern beschäftigen. Sowohl mit solchen, die ich in der Schule gelesen habe als auch mit solchen, die ich längst hätte lesen wollen und sollen. Hat sich mein Blick auf die Lektüre verändert, wenn es eine neuerliche Lektüre ist? Sehe ich jetzt etwas am Text, das ich früher nicht gesehen habe? Weshalb ist es noch immer lohnenswert, diesen oder jenen Text zu lesen? Der Regen peitscht über irgendeinen Deich. Ihm zu Füßen ein Pferd und tüchtige Männer, die irgendwelche notwendigen Reparaturarbeiten ausführen (am Deich, nicht am Pferd), die Lage ist angespannt, man brüllt sich über das Tosen des Sturms Anweisungen zu. So oder so ähnlich ist eine Filmszene aus dem Schimmelreiter in meinem Kopf verankert, die zu einer der drei Verfilmungen (1934, 1977, 1984) von Theodor Storms Novelle gehören muss, die wir wohl in der achten Klasse begleitend zur Lektüre gesehen haben. Das ist gut und gern fünfzehn Jahre her. Viel mehr war nicht in meinem Gedächtnis …

Jasmin Schreiber – Marianengraben

Paulas kleiner Bruder Tim ist gestorben. Bei einem Urlaub mit den Eltern ist er, der „Meeresforscher“, im Meer ertrunken. Und nichts ist mehr wie es war. Jasmin Schreiber erzählt in Marianengraben zwar von Tod und Abschiednehmen, gleichzeitig aber genauso sehr vom Leben – das eine lässt sich nicht vom anderen trennen. 11000 Meter ist der Marianengraben tief. Darin nicht nur die tiefste Stelle des Weltmeeres, sondern zahllose unentdeckte Tierarten zweifelhafter Schönheit. Dort, wo das Sonnenlicht niemals ankommt, leuchten und blinken biolumineszente Lebewesen in der Dunkelheit. Für Paula ist der Marianengraben ein Sinnbild ihrer Trauer: tief, düster, allumfassend. Sie fühlt sich wie ein Fallen an in 11000 Meter Tiefsee. Nur folgerichtig, dass die Kapitel in Marianengraben Kilometerzahlen sind. Stück für Stück steigt Paula wieder an die Oberfläche. Zunächst aber sitzt sie beim Therapeuten und spricht mit ihm über Nudeln, weil sie alles andere nicht in Worte fassen kann. Der Therapeut rät ihr, den Friedhof aufzusuchen, wenn kein anderer dort ist und obwohl Paula das absurd erscheint, beherzigt sie den Ratschlag. Mit einer Trittleiter im Schlepptau bricht …

#klassikerlesen mit Cornelsen: Kurzgeschichten

Auf Instagram habe ich es schon angekündigt: Ich möchte mich in diesem Jahr, in Kooperation mit dem Cornelsen-Verlag, mit ausgewählten Klassikern beschäftigen. Sowohl mit solchen, die ich in der Schule gelesen habe als auch mit solchen, die ich längst hätte lesen wollen und sollen. Hat sich mein Blick auf die Lektüre verändert, wenn es eine neuerliche Lektüre ist? Sehe ich jetzt etwas am Text, das ich früher nicht gesehen habe? Weshalb ist es noch immer lohnenswert, diesen oder jenen Text zu lesen? Ich beginne diese #klassikerlesen-Reihe mit einem Kurzgeschichten-Sammelband, der sowohl moderne Klassiker wie Siegfried Lenz, Wolfgang Borchert und Ilse Aichinger enthält als auch zeitgenössische Autor*innen wie Saša Stanišić, Lucy Fricke oder Zoë Jenny. Kurzgeschichten sind ein zu häufig stiefmütterlich behandeltes Genre. Überhaupt Erzählungen. Warum eigentlich? Manche haben lieber eine ausführlicher dargebotene Story, andere mögen die Leerstellen nicht, die eine Kurzgeschichte zwangsläufig durch ihren Fokus auf wenige Personen und zentrale Konflikte hinterlässt. Kurzgeschichten und Erzählungen im Buchhandel zu verkaufen, ist immer irgendwie knifflig. Verstanden habe ich das noch nie. Ich persönlich schätze es, wenn eine …

Michael Kumpfmüller – Ach, Virginia

Einige Jahre nach Michael Kumpfmüllers erfolgreichem Roman Die Herrlichkeit des Lebens, in dessen Mittelpunkt Franz Kafka stand, erscheint nun erneut ein Text, der um das Leben einer Schreibenden kreist. Protagonistin ist diesmal Virginia Woolf. „L. macht die Rhododendren …“ ist der letzte Satz, den Virginia Woolf vor ihrem Tod im März 1941 zu Papier bringt. Wenige Tage später wird sie sich das Leben nehmen, in einem Fluss nahe ihres Hauses. Michael Kumpfmüller rekonstruiert in Ach, Virginia nun die letzten zehn Tage ihres Lebens. In einer Mixtur aus Außen- und Innenperspektive folgt er Woolf in die tiefe Depression und die Zerrissenheit, die sie immer wieder heimgesucht haben. Kumpfmüller wählt dafür einen Tonfall, der mit dem von Woolf (ausgehend von ihren überlieferten Tagebuchaufzeichnungen) durchaus vergleichbar ist: poetisch, ironisch, manchmal beißend im Ton, unstet, hadernd und kreisend um Themen und Menschen, die die Schriftstellerin zeitlebens geprägt haben. Da und dort zitiert Kumpfmüller auch direkt aus Woolfs Notizen. Offenbar steht es doch schlimmer um sie, als sie gedacht hat. Sie ist ernsthaft krank, in ihrem Kopf ist jede Menge …

Bodo Wartke feat. Sophokles: Antigone

Wartkes Bearbeitung setzt nun an vielen Stellen an, um das Stück zu beleben. Wie es ihm eigen ist, wird hemmungslos gereimt, aber nicht nur das: Er integriert zwei Sprecher ins Stück (verkörpert von Wartke und seiner famosen Bühnenpartnerin Melanie Haupt), die am Rande der Handlung stehen und eine Beobachterposition einnehmen. Sie kommentieren immer wieder das Geschehen, ordnen es in einen größeren erzählerischen Kontext oder sind selbst erschrocken und überrascht angesichts der Geschehnisse – sie bilden gleichsam die Verkörperungen der Leser- und Zuhörerschaft. Obwohl Wartkes Stück nur Antigone heißt, besteht es auf der Handlungsebene aus zwei Stücken. Die Bearbeitung umfasst auch Sophokles‘ Ödipus auf Kolonos, das gewissermaßen die Vorgeschichte zu dem enthält, was in Antigone relevant wird. Das Stück einfach einzuarbeiten und damit einen größeren Handlungsbogen zu spannen, ist ein cleverer Schachzug. Selbst ein kurzer Rekurs auf König Ödipus ist in Form eines Lieds enthalten. Am Ende ist also die ganze Geschichte für jeden nachvollziehbar und verständlich, selbst wenn er oder sie von den Vorgeschichten und vergangenen Verstrickungen nichts weiß. Apropos Lied: Da Wartke bekanntlich nicht …