Erzählungen, Klassiker, Rezensionen
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#klassikerlesen mit Cornelsen: Der Schimmelreiter

Auf Instagram habe ich es angekündigt: Ich möchte mich in diesem Jahr, in Kooperation mit dem Cornelsen-Verlag, mit ausgewählten Klassikern beschäftigen. Sowohl mit solchen, die ich in der Schule gelesen habe als auch mit solchen, die ich längst hätte lesen wollen und sollen. Hat sich mein Blick auf die Lektüre verändert, wenn es eine neuerliche Lektüre ist? Sehe ich jetzt etwas am Text, das ich früher nicht gesehen habe? Weshalb ist es noch immer lohnenswert, diesen oder jenen Text zu lesen?

Der Regen peitscht über irgendeinen Deich. Ihm zu Füßen ein Pferd und tüchtige Männer, die irgendwelche notwendigen Reparaturarbeiten ausführen (am Deich, nicht am Pferd), die Lage ist angespannt, man brüllt sich über das Tosen des Sturms Anweisungen zu. So oder so ähnlich ist eine Filmszene aus dem Schimmelreiter in meinem Kopf verankert, die zu einer der drei Verfilmungen (1934, 1977, 1984) von Theodor Storms Novelle gehören muss, die wir wohl in der achten Klasse begleitend zur Lektüre gesehen haben. Das ist gut und gern fünfzehn Jahre her. Viel mehr war nicht in meinem Gedächtnis geblieben, abgesehen vom Namen des Deichgrafen: Hauke Haien. Als ich zur Re-Lektüre ansetze, bin ich gespannt, ob ich etwas wiedererkenne oder gar völlig überraschend Erkenntnisse mitnehme, die mir damals nie gekommen wären. Ich finde sogar die alte Schullektüre wieder, die ich nicht weggeworfen habe. Darin ein fröhliches Potpourri bunt markierter Textstellen und allerlei Randbemerkungen, die mir vor allem die Intentionen der Figuren erklären sollen: „abschätzend“ etwa oder „tritt für seinen Sohn ein“ und „aufopferungsvoll“.

Die Geschichte, die Storm in seiner Novelle niederschreibt, sei kurz umrissen: Hauke Haien, geboren in Nordfriesland, ist ein ziemlich kluger Kopf. Schon als Kind ist er interessiert an Mathematik, er lernt sogar Holländisch, um ein Buch von Euklid zu lesen, das im väterlichen Haushalt nur auf holländisch zu finden ist. Er wächst heran als kleines Wunderkind, das seine eigenen Berechnungen über die Haltbarkeit und Stabilität nordfriesischer Deiche anstellt. Und er kommt zu dem Schluss: „Unsere Deiche sind nichts wert.“ Freilich schenkt ihm niemand Gehör, wo doch altkluge Kinder gemeinhin eher unbeliebt sind und es geht einige Zeit ins Land. Der amtierende Deichgraf Tede Volkerts ist vor allem deshalb auf seinem Posten, weil der in der Familie von Generation zu Generation weitergetragen worden ist, nicht etwa, weil er Ahnung von der Materie hätte. Hauke geht ihm schließlich zur Hand, bandelt mit seiner Tochter Elke an und verstrickt sich in Rivalitäten mit dem Großknecht Ole Peters, der auf Volkerts Hof arbeitet. Mithilfe seiner Frau Elke wird Hauke nach dem Tod von Tede Volkerts Deichgraf und beginnt sehr bald mit der Planung eines neuen, besseren Deiches. Um ihn herum spinnen die abergläubischen Knechte und Mägde derweil Gespenstergeschichten; vor allem um seinen Schimmel. Der soll eigentlich der Geist eines toten Pferdes sein, das auf der Jevershallig vor der Küste liegt. Um den Deichgrafen entwickelt sich nach und nach eine etwas dämonische Aura, auch deshalb, weil er die versponnenen Ideen mancher Nachbarn und Arbeiter nicht teilt. So sind einige der Ansicht, es müsse „etwas Lebiges“ in den neuen Deich eingearbeitet werden, um ihn haltbar zu machen. In letzter Minute bewahrt Hauke einen Hund davor, unter Lehm und Stroh vergraben zu werden. „Ein Kind ist besser noch“, sagt einer, „wenn das nicht da ist, tut’s wohl auch ein Hund.“ Nach einiger Zeit stellt Hauke bei einem Ausritt Schäden an Teilen des alten Deiches fest, der an einzelnen Stellen noch immer mit dem neuen verbunden ist. Seine Reparaturarbeiten sind, entgegen seines Bauchgefühls, am Ende provisorischer Natur – und das wird im Zuge einer Sturmflut zur Katastrophe führen.

Wer den Schimmelreiter liest, wird, so er oder sie nicht zufällig auf einem nordfriesischen Bauernhof am Deich geboren ist, mit einer Menge unbekanntem Vokabular konfrontiert: von Koog über Priel bis zu Geest und Fenne. Sich das vorzustellen, ist nicht immer ganz so einfach. Darüber hinaus hat Storm eine Konstruktion für seine Novelle gewählt, die mehrere Rahmenhandlungen umfasst. So beginnt der Schimmelreiter mit der Urgroßmutter Theodor Storms, in deren Haus dieser erste Erzähler (mutmaßlich Storm) das erste Mal in einem Leseheft auf die Schimmelreitergeschichte stößt. In dieser Erzählung gibt es wiederum einen zweiten Erzähler, der auf einem Deich unterwegs ist und Bekanntschaft mit einer „dunklen Gestalt“ macht, die ihm mit flatterndem Mantel auf einem „hochbeinigen hageren Schimmel“ entgegen kommt. Sie hat „zwei brennende Augen“ und ein „bleiches Antlitz“, alles also ziemlich gruselig. Leser*innen werden sich denken: Ach, das muss der Schimmelreiter sein! Der Erzähler kehrt, relativ unbeeindruckt, in ein Wirtshaus ein, wo ihm ein Schulmeister (Erzähler Nummer drei) nun die Geschichte von Hauke Haien erzählt. Die Geschichte wird zwischendurch immer mal wieder für eine Rückkehr ins Wirtshaus unterbrochen, sie springt also zwischen den Erzählebenen hin und her. Für die damalige Zeit (1888) war das eine ziemlich innovative Erzähltechnik, nicht nur zur Steigerung der Spannung, sondern auch zur Beglaubigung des Erzählten.

Der Schimmelreiter ist indessen nicht nur eine Gespenstergeschichte (sogar recht wenig, verglichen mit den klassischen Spukgeschichten), deren Ursprung übrigens auch mutmaßlich nicht an der Nordsee liegt. Erzählt wird vom Konflikt zwischen Tradition und Moderne, Mensch und Natur, Mensch und Mensch. Wenn man so will also überzeitliche Themen, die uns heute in anderer Gestalt wieder begegnen. Zwar sind wir heute eine hochgradig modernisierte und individualisierte Gesellschaft, in der die wenigsten noch an gespenstische Erscheinungen glauben und vermutlich nur eine handvoll Menschen noch Hundewelpen in ein Fundament würfen, damit es haltbarer wird. Dafür glauben Menschen heute in nicht unerheblicher Zahl an Chemtrails, geheime Eliten, die die Welt zu ihren Gunsten steuern oder die Nahrhaftigkeit von Licht. Der Konflikt zwischen Mensch und Natur ist im Klimawandel und den Bemühungen, zu einer ökologisch nachhaltigeren Lebensweise zu finden, noch heute in weit größerem Umfang virulent als 1888. Und nun: Konflikte zwischen Mensch und Mensch beschäftigen die Literatur, seit es die Literatur gibt.

 

Es gibt mittlerweile diverse Adaptionen der Schimmelreitergeschichte, auch für Kinder. Es gibt eine Graphic Novel, Theaterfassungen, Verfilmungen (s.o.). Ich bin mir sicher, dass mir damals im Deutschunterricht nähergebracht worden ist, dass Storms Novelle mehr beinhaltet als die Geschichte eines Deich-Nerds, der am Ende tragisch untergeht. Natürlich ist der Schimmelreiter auch ein bisschen norddeutsche Folklore: hagere Friesen, raue See, Eisboßeln und Grog. Zwar wohne ich seit mittlerweile 19 Jahren in Norddeutschland, aber ich stamme nicht gebürtig aus der Gegend. Vielleicht ist das der Grund, weshalb dieses folkloristische Element bei mir weniger verfängt. Alles in allem war ich erstaunt, wie viel ich vergessen hatte seit Schulzeiten. Und wie schwer mir anfangs doch die Eingewöhnung in die Sprache fiel – obwohl die nun wirklich nicht besonders kompliziert ist. Es lohnt sich, Klassiker nochmals zu lesen. In verschiedenen Lebensphasen. Zweifellos habe ich mit 14 oder 15 anders auf diesen Text gesehen. Ich war anders. Und auch die Welt war eine andere.

Diese Anthologie ist Teil der Literathek: dort erscheinen zahlreiche Klassiker mit Anmerkungen und Glossar sowie wissenswerten Hintergründen zu Werk und/oder Genre.

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