Klassiker, Rezensionen
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#klassikerlesen mit Cornelsen: Jugend ohne Gott.

Auf Instagram habe ich es angekündigt: Ich möchte mich in diesem Jahr, in Kooperation mit dem Cornelsen-Verlag, mit ausgewählten Klassikern beschäftigen. Sowohl mit solchen, die ich in der Schule gelesen habe als auch mit solchen, die ich längst hätte lesen wollen und sollen. Hat sich mein Blick auf die Lektüre verändert, wenn es eine neuerliche Lektüre ist? Sehe ich jetzt etwas am Text, das ich früher nicht gesehen habe? Weshalb ist es noch immer lohnenswert, diesen oder jenen Text zu lesen?

Mein altes Suhrkamp-Exemplar von „Jugend ohne Gott“ stammt mutmaßlich von irgendeinem Bücherflohmarkt. Es steht seit Jahren – ich muss es zugeben – ungelesen in meinem Regal. In dem Bewusstsein, dass es ein Buch ist, das man kennen und gelesen haben müsste. Als ich es in einer Kiste auf dem Flohmarkt fand, kannte ich den Namen Ödön von Horváth, auch „Jugend ohne Gott“ war mir als Titel ein Begriff, ohne viel darüber zu wissen. Vor diesem Hintergrund habe ich gern zugestimmt, für Cornelsen diesen Klassiker zu lesen. Keine Re-Lektüre diesmal, sondern eine Erstlektüre, für die ich, so viel darf ich spoilern, dankbar bin.

Worum geht’s also, von der gottlosen Jugend abgesehen? Im Mittelpunkt des Romans steht ein namenloser Lehrer in seinen 30ern. Er unterrichtet an einem Städtischen Gymnasium (auf em man Arbeiterkinder vergeblich sucht) Geschichte und Geografie. Zu Beginn des Romans korrigiert er gerade die Aufsätze zum Thema: „Warum brauchen wir Kolonien“? Die Schüler ergehen sich überwiegend im Propaganda-Duktus des „Radios“ (also: des „Volksempfängers“ nach Goebbels) über das Volksganze und die Minderwertigkeit bestimmter Menschengruppen (zu Horvaths Zeiten war der Begriff Neger noch in völlig unkritischer Verwendung, Cornelsen macht das mit einer Seitenbemerkung kenntlich; wenn ich ihn im Folgenden aus dem Roman einmalig zitiere, geschieht das, weil ich den Originaltext zitiere – es steht außer Frage, dass der Begriff heute unzulässig und indiskutabel ist!). Obwohl der Lehrer mehrmals zu kritisieren ansetzt, entscheidet er sich dazu, die ungeheuerlichen Äußerungen der Schüler unkommentiert zu lassen. „Was einer im Radio redet, darf kein Lehrer im Schulheft streichen“, heißt es. Wie unschwer zu erkennen ist, befinden wir uns in einer Diktatur, genauer: in der NS-Zeit. Das Erscheinungsdatum des Romans dürfte sich also mit der Zeit der Romanhandlung weitgehend decken.

Unser Lehrer ist ein Mitläufer, kein strammer Parteigänger, aber einer, der sich den Umständen fügt, selbst wenn er sie nicht vollumfänglich gutheißt. Tatsächlich blickt er mit Sorge und Skepsis auf die Generation im Klassenzimmer: „Dass diese Burschen alles ablehnen, was mir heilig ist, war zwar noch nicht so schlimm. Schlimmer ist schon, wie sie es ablehnen, nämlich: ohne es zu kennen. […] Sie pfeifen auf den Menschen! Sie wollen Maschinen sein, Schrauben, Räder, Kolben, Riemen – doch noch lieber als Maschinen wären sie Munition. […] Der Name auf einem Kriegerdenkmal ist der Traum ihrer Pubertät.“ Horváths Lehrer beschreibt eine Generation, die in einer Bewegung aufgeht, die Rädchen sein will im großen ideologischen Getriebe und die dafür – in kopflos-naiver Heldenverehrung – alles zu opfern bereit ist. Es ist nicht nur eine Generation, die den Ersten Weltkrieg nicht erlebt hat und deren romantisierte Kriegsvorstellung mithin von der Realität unangetastet blieb, es ist auch eine Generation, für die die nationalsozialistische Propaganda allgegenwärtig ist.

Die Markierung entstammt der Flohmarktausgabe und ist nicht von mir. Trotzdem spannend, was andere so markieren.

In einer Geografiestunde äußert der Lehrer den folgenschweren Satz: Auch die Neger sind doch Menschen. Das bringt ihm nicht nur den Spott seiner Schüler, sondern auch den Zorn einiger Eltern ein, die als überzeugte Nationalsozialisten geradezu schockiert von solchen Ansichten sind (es ist wahrhaftig nicht so als hätte der Lehrer eine humanistische Lehrstunde abgehalten, Horváth schreibt hier keine Heldenfigur). Und dennoch: Prompt wirft ihm sein Vorgesetzter „Humanitätsduselei“ vor, die „unschuldige Kinderseelen“ unterhöhlt. Schule hat längst nicht mehr den Auftrag, Kinder zu bilden, sie hat den Auftrag, Kinder propagandagemäß zu formen. Das heißt in diesem Fall: Sie zu kriegswilligen oder obrigkeitshörigen Soldaten zu erziehen. Der Lehrer zieht aus der angedrohten Disziplinarstrafe nicht etwa den Schluss, an dieser Erziehung nicht mehr teilzuhaben. Er will ihnen den Erfolg nicht gönnen, ihn ruiniert zu haben. „Würd euch so passen“, denkt er sich, „ich werde euch von nun ab nur mehr erzählen, dass es keine Menschen gibt außer euch […].“ Tja nun. Kann man so machen, ist aber diskutabel.

An Ostern fährt der Lehrer mit seinen Schülern ins „Zeltlager“. Sie fahren nicht in die Ferien, vielmehr dient das Zeltlager der vormilitärischen Erziehung. Dort wird der Umgang mit der Waffe geübt, das Marschieren, das Exerzieren, der Gruppenzusammenhalt wird gestärkt – so ähnlich, wie es auch heute Rechtsextremist*innen in ihren Sommercamps und Zeltlagern tun. Im Camp kommt es zu einem Verbrechen: der Schüler N. wird erschlagen aufgefunden. Er war zuvor mit einem Mitschüler in Streit geraten, weil er Tagebuch im Zelt schrieb und den anderen beim Schlafen störte. Schnell fällt der Verdacht auf diesen Mitschüler; auch ein Mädchen, das sich mit Diebstählen über Wasser hält, gerät in den Fokus. Tatsächlich wird aber auch der Lehrer in die Vorkommnisse verwickelt. Er hat heimlich das Tagebuch des Jungen gelesen, es wird mit offenem Siegel gefunden. Die Frage, die ein Gerichtsprozess nun zu klären hat, lautet: Wer hat N. ermordet? Wer hat sein Tagebuch gelesen? Zu Beginn scheint die eine Frage noch mit der anderen zusammenzuhängen, allerdings wissen wir durch den tagebuchartigen, perspektivisch auf den Lehrer fokussierten Stil des Textes, dass er vermutlich nicht der Täter ist.

Vor dem Hintergrund dieses Mordes zeichnet Horváth das Bild verrohter, ideologisch verblendeter und gleichgültiger Menschen. Trotzdem Gott sowohl im Titel als auch im Roman immer wieder Erwähnung findet, geht es hier nicht um eine religiöse Frömmigkeit, die den Jugendlichen fehlt. Am Schluss heißt es: „Denn Gott ist die Wahrheit“ (Anspielung auf Johannes, 14,6). Es fehlt den Jugendlichen (bis auf wenige Ausnahmen) der Mut, für die Wahrheit einzutreten. Es fehlt der Mut, sich nicht von Propaganda und Hass vereinnahmen zu lassen. Horváths Lehrer trifft für sich vor Gericht eine Entscheidung. Das macht ihn nicht zum Helden, aber zu einer Figur, die nicht mehr nur Rädchen im Getriebe ist. Horváths Roman ist nicht etwa pauschale Abrechnung mit „der Jugend“, sondern die klare Darstellung eines bestimmten Menschentyps, ohne den keine Diktaturen errichtet und erhalten werden: „Wenn kein Charakter mehr geduldet wird, sondern nur der Gehorsam, geht die Wahrheit und die Lüge kommt.“ Nicht umsonst gibt Horváth seinen Schülern keine vollständigen Namen. Sie bleiben Buchstaben oder sie heißen „Otto N.“, sie stehen pars pro toto für eine Haltung und eine Gesinnung.

Horváths Stil ist schmucklos, in einigen Passagen bewusst umgangssprachlich. Und doch entfaltet er eine unheilvolle Kraft: möglicherweise auch vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen. In den letzten Monaten gab es mehr als eine Gelegenheit, sich die Mitläufer*innen anzusehen, deren Schulterschluss mit politischem Extremismus mindestens sie selbst nicht im Geringsten zu stören scheint. Man konnte sich Mittäter*innen ansehen, die teilhaben an der Verbreitung von Lügen, Hetze und Propaganda. Horvaths Roman ist nicht veraltet, kann nicht veraltet sein in einer Zeit, in der Menschen wieder von Volk, Einigkeit und Heimat schwadronieren, während sie anderen ihre Grundrechte absprechen.

Als 1937 „Jugend ohne Gott“ im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange erscheint, ist der österreich-ungarische Schriftsteller für die Nationalsozialisten längst persona non grata. Hatte er 1934 noch in existenzsichernder Absicht versucht, in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller aufgenommen zu werden (was ihm viel Kritik seitens einiger Schriftstellerkollegen eingetragen hat), wird er 1936 aus Deutschland ausgewiesen, seine Bücher und Stücke dürfen nicht mehr verkauft oder aufgeführt werden. Horváth reist nach Ungarn, über Triest und Zürich nach Amsterdam, bekommt schließlich eine Einreisegenehmigung für die Vereinigten Staaten. Zur Emigration in die USA sollte es nicht mehr kommen. Horváth wird 1938 in Paris während eines Gewitters von einem herabstürzenden Ast erschlagen.

Lest Horváth. Verfilmungen gibt es übrigens auch einige, zuletzt eine aus dem Jahr 2017, die die Themen des Romans in ein aktuelles Szenario überträgt. Kritiker bemängeln nicht nur den vergleichsweise geringen Bezug zur Buchvorlage, sondern auch das Versäumnis, den gegenwärtigen Rassismus und Rechtsextremismus zum Thema zu machen. Wäre ja eigentlich eine Steilvorlage gewesen.

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