Mit Desintegriert euch schrieb der Lyriker und Theatermacher Max Czollek 2018 einen vielbeachteten Essay über das sogenannte Gedächtnistheater und die festgeschriebene Rolle jüdischer Menschen innerhalb der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Gegenwartsbewältigung, auch Titel einer Lesereihe im Berliner Maxim Gorki Theater, wirft nun, mit Rückbezug auf Thesen des Vorgängerbuches, einen Blick auf gesellschaftliche und künstlerische Bewältigungsstrategien angesichts aktueller Krisen. Wie kann Solidarität in einer Gesellschaft gelingen, in der Menschen sich zunehmend vor allem mit denen solidarisieren, die genauso sind wie sie? Wie kann Kunst aussehen, die ihre Entstehungsbedingungen reflektiert und an aktuelle Diskurse anschließt? Was kann Kunst überhaupt leisten in diesen Tagen?
Wenn die gegenwärtige Pandemie uns eines gezeigt hat, dann ist es die Tatsache, dass vieles politisch möglich ist, wenn ein unbedingter Wille zur Umsetzung existiert. Innerhalb kürzester Zeit wurden Milliarden ausgegeben, um die Auswirkungen des Lockdowns abzufedern. Es wurden Maßnahmen ergriffen, die tief in unser aller Alltagsleben eingreifen, um besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen vor einer Infektion zu schützen. Warum war all das so schnell umsetzbar, während andere Brandherde seit Jahren schwelen, ohne einen Bruchteil dieser Aufmerksamkeit zu erfahren? Die rechtsextremistischen Anschläge der letzten Monate und Jahre haben zwar Entrüstung, aber wenig politische Maßnahmen hervorgebracht. Moria brannte und wenig ist geschehen. Die „Schande Europas“, wie Jean Ziegler die europäische Migrationspolitik bezeichnete, ist für jedermann sichtbar.
Czollek begründet diese Trägheit mit mangelnder Solidarität. Trotzdem wir im Frühjahr zu unbedingter Solidarität mit unseren Mitmenschen aufgefordert wurden, scheint diese Solidarität nicht für alle gleichermaßen zu gelten. Marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen gegenüber, seien sie jüdisch, muslimisch, queer oder anderweitig abweichend von der Mehrheitsgesellschaft, ist Solidarität oft allenfalls Lippenbekenntnis. Mit wem sind wir eigentlich warum solidarisch? Czollek schreibt: „Das Problem dieser Gesellschaft ist kein Mangel an Gemeinschaftsgefühl, sondern ein Mangel an Gefühl dafür, wer zu dieser Gemeinschaft dazugehört.“ Ein wahres Wort, schließlich herrscht an gemeinschaftsstiftenden”Wir-gegen-die”-Konstruktionen dieser Tage kein Mangel. Und sollte man nicht zufällig außerhalb dieses Clubs stehen, mag einem womöglich gar nicht auffallen, wie vielen der Zutritt verweigert wird.
Um nicht solidarisch sein zu müssen, genügt es, die Anderen als andersartig zu kennzeichnen. Das gelingt etwa mit der Erfindung einer deutschen Leitkultur, die eng mit der Vorstellung verknüpft ist, nur Deutsche könnten wahrhaftig Teil dieser deutschen Leitkultur sein. Allen anderen bleibt nur die Assimilation bis zur Unkenntlichkeit und selbst dann steht ihr Deutschsein immer wieder in Frage. Die Essentialisierung dieser Herkunft und ihre Festschreibung in der abgegriffenen Floskel der jüdisch-christlichen Tradition ist indes der Nährboden für Gewalt und Ausgrenzung. Auch in der jüdisch-christlichen Tradition, so Czollek, ist „den Juden“ wieder ein spezieller Platz in der deutschen Leitkulturerzählung zugewiesen. Sie sollen mittels geteilter Traditionen bürgen für die Wiedergutmachung und die Wandlung der Deutschen, die von immer stärker aufflammendem Antisemitismus eigentümlich unbeeindruckt sind.
Czollek persifliert das Raunen vom jüdisch-christlichen Abendland mit einer jüdisch-muslimischen Leitkultur und entwirft sie als Gegenpart zu Heimat und Einigkeit. Sie soll die identitären Erzählungen aufbrechen, sie steht für Selbstwirksamkeit und Unabhängigkeit: „Die jüdisch-muslimische Leitkultur ist die Konsequenz aus der Einsicht, dass die plurale Gesellschaft nicht nur auf Vielfalt basiert, sondern dass sie aus dieser Vielfalt auch ihre Widerstandsfähigkeit schöpft.“ Vielfalt ist längst eine gesellschaftliche Realität. Wir erfinden sie nicht, indem wir darüber sprechen. Sie war immer da. Die Frage ist nur: Wann hören wir auf, sie als akute Bedrohung zu begreifen und widmen uns stattdessen den wirklich bedrohlichen Dingen? Rechtsextremist*innen, die Löschkalk kaufen und Todeslisten führen, zum Beispiel.
Dass insbesondere in Ostdeutschland eine hohe Affinität zu rechtsextremen, identitären Positionen besteht, war in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand von erhitzten Debatten. Der modellhafte Ostdeutsche sei nicht rassistischer als der Westdeutsche, hieß es hier. Die spezifisch ostdeutschen Diskriminierungserfahrungen wurden nie aufgearbeitet, hieß es dort. Czollek formuliert nun aber einige Thesen dazu, die einen genaueren Blick lohnen. Nicht nur erwächst aus tatsächlichen Erfahrungen von Abwertung nach der Wende eine Ellbogenmentalität, die eigene Befindlichkeiten etwa über die von Geflüchteten stellt. Das Selbstverständnis der DDR als antifaschistischer Staat fungiert auch als Abwehrmechanismus gegen Vorwürfe faschistischer, rechtsextremer Gesinnung. Die DDR war qua Definition antifaschistisch, also können die ehemaligen DDR-Bürger*innen (der eigenen Wahrnehmung gemäß) gar nicht faschistisch sein. Diese Abwehrhaltung gleicht der Argumentationslogik eines Horst Seehofer, der strukturellen Rassismus in der Polizei nicht untersuchen lassen wollte, weil der ja schließlich verboten sei.
Müßig zu erwähnen, dass es in der DDR genauso Rechtsextremismus gab wie heute in der Polizei strukturellen Rassismus. Die Passagen über verschiedene Perspektiven auf den 09. November und den Umgang der DDR-Parteiführung mit rechtsextremer Gewalt sind ernüchternd einerseits, aber auch erhellend andererseits. Czolleks Überlegungen sind Einladungen zur Diskussion, weil er immer wieder Stimmen einbezieht, die sonst selten gehörten werden: in Zusammenhang mit dem Mauerfall etwa Stimmen aus migrantischen Communities, für die die Wiedervereinigung Deutschlands nicht das erlösende Fest der Freude, sondern potentielle Gefahr gewesen ist. Kunst kann eine Plattform sein, um diesen abgedrängten Stimmen Gehör zu verschaffen und damit Perspektiven zu erweitern. Kunst kann Vielfalt in aller Radikalität abbilden und damit eine Gegenrealität schaffen, unbeeindruckt von Homogenität und Heimatbeschwörung.
Wenn Czollek darüber nachdenkt, wie ein Verbündet-Sein trotz aller Unterschiede möglich ist, warnt er auch davor, Unterschiede und Erfahrungen zu verabsolutieren: Privilegien definierten nicht politische Absichten und die Praxis radikaler Vielfalt müsse die Abwehr von Festschreibungen auf bestimmte Eigenschaften zum Ziel haben. Das gelte nicht nur für eine privilegierte Mehrheitsgesellschaft, sondern „ebenso für Diskriminierte, die bisweilen Gefahr laufen, sich die Zuschreibung, gegen die sie sich zur Wehr setzen, selbst zu glauben.“ Gegen stereotype Festschreibungen zu kämpfen, kann und darf nicht bedeuten, sie an anderer Stelle neu zu etablieren; das ist als auch Kritik an manch linker Diskussionskultur zu verstehen.
Gegenwartsbewältigung ist ein lebendiges und provokationsfreudiges Buch, das nicht allein die Frage aufwirft, wie wir leben, sondern auch, wie wir künstlerisch arbeiten können angesichts demokratie- und menschenfeindlicher Umtriebe. Einen Rat immerhin gibt Czollek uns: „Schreibe so, dass Nazis dich verbieten würden.“
Max Czollek: Gegenwartsbewältigung, Hanser Verlag, 20,00 €