Alle Artikel in: Rezensionen

Kurz & knapp, Teil 3/19.

Es ist ein Irrglaube, dass soziale Medien und neue Technologien den Extremismus erst hervorbrächten, der allenthalben auf ihnen zu sehen ist. Nichtsdestotrotz fungieren sie als Katalysatoren für Fundamentalisten, beschleunigen Radikalisierungsprozesse, geben Instrumentarium an die Hand, das es noch vor zwanzig Jahren in dieser Form nicht gab. Obwohl Fundamentalisten, ob am rechten Rand oder im islamistischen Milieu, eine rückwärtsgewandte Ideologie vertreten, machen sie sich modernste Techniken zunutze, um sie zu verbreiten. Julia Ebner (die bereits mit Wut ein Buch über die Funktionsmechanismen extremistischer Propaganda geschrieben hat) liefert in Radikalisierungsmaschinen einen Einblick in verschiedene Gruppierungen: Identitäre und die Neue Rechte, Antifeministinnen, Dschihadisten, militante Männerrechtler, ein Datingportal ausschließlich für Weiße. Sie untersucht, wie deren Medien- und Mobilisierungsstrategien funktionieren und demaskiert damit nicht nur innere Widersprüche, sondern auch interne Strategien. So gibt die Alt-Right rund um die Demonstrationen in Charlottesville die Anweisung heraus, Anhänger geringerer Attraktivität sollten lieber zuhause bleiben. Nazis sind heute adrett und gutaussehend. Wer das nicht ausstrahlt, gefährdet den Erfolg der Gruppe. Ebner macht deutlich, dass extremistische Gruppen mittels modernster Technologien den Diskurs bestimmen, obwohl sie …

Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

Max, Reik, Tonio und Pega fahren für ein Wochenende ins ländliche Brandenburg. Was eigentlich als harmonische Zusammenkunft anlässlich Max und Reiks langjähriger Partnerschaft gedacht ist, wird zu einer Kette von Ereignissen, die die Koordinaten für alle verändert. Kintsugi steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019. Sie könnten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein. Max als ordnungsliebendes Kind einer Hippiekommune, Reik als weltberühmter Künstler aus problematischem Elternhaus, Tonio als Sohn italienischer Immigranten und Pega, Tonios Tochter, die zwar ohne Mutter, aber mit den drei Männern als Familie aufgewachsen ist. Max und Reik sind nun zwanzig Jahre ein Paar und wollen das mit einem Aufenthalt in ihrem Wochenendhaus feiern. In dieser räumlich begrenzten Situation brechen nun aber Konfliktlinien zwischen den Protagonisten auf, die lange unausgesprochen geblieben sind. Max fühlt sich, trotz aller oberflächlichen Harmonie, eher als Beiwerk und Stützpfeiler in Reiks kometenhafter Karriere. Tonio trauert noch immer Reik hinterher, mit dem ihn in Jugendjahren eine Partnerschaft verband. Pega (von allen nur, etwas gruselig, “Kniefte” genannt) glaubt, dass sie Tonio ein Klotz am Bein ist. Reik …

Isabel Bogdan – Laufen

Eine Frau läuft. An der Alster entlang und überholt von passionierten Langstreckenläufern mit Tracking-Gadgets versucht sie, in der Bewegung den Verlust zu begreifen, den sie gerade erlitten hat. Laufen ist ein Bewusstseinsstrom und die Rückeroberung eines Lebens. Laufen, so heißt es immer wieder, ordnet die Gedanken. Ein absichtsloses Spazieren ebenso wie die Fortbewegung im Laufschritt. Die Bewegung gibt den Rhythmus vor und Gedanken können ungehindert fließen. Von Ordnung ist in den Gedanken von Isabel Bogdans Protagonistin zunächst wenig zu spüren. Es ist lange her, dass sie zuletzt gelaufen ist. Jetzt versucht sie das Laufen zu nutzen, um mit sich selbst in inneren Dialog zu treten. Unlängst hat ihr Partner sich das Leben genommen. Alles ist überschattet von dieser Katastrophe, die zu viele Fragen hinterlassen hat, um sie jemals zu beantworten. Die Protagonistin wusste von seiner Depression, deren Ausmaß als Krankheit sie erst wirklich zu begreifen beginnt, als es zu spät ist. Sie macht sich Vorwürfe. Das Leid des Partners nicht bemerkt zu haben, keine ausreichende Stütze gewesen zu sein. Sie ist wütend, dass er sie …

Mareike Fallwickl – Das Licht ist hier viel heller

In Das Licht ist hier viel heller erzählt Mareike Fallwickl von Macht und ihrem Missbrauch, von Grenzverletzungen und Selbstverliebtheit, von Schönheitsidealen und Rollenbildern. Es ist ein Roman, in dem zeitgenössische Debatten kulminieren. Maximilian Wenger ist ein ziemlich toller Hecht. Der potenteste Fisch im Teich, Bestsellerautor und Lebemann; nur vorübergehend in einer Sinn- und Schaffenskrise. Seine letzten Romane sind gescheitert, Literaturblogger*innen haben ihn verhöhnt, das Feuilleton höflich ignoriert. Zu allem Überfluss hat seine Frau ihn wegen seiner Affären für einen jüngeren Fitness-Guru aus der Schweiz verlassen. Es könnte besser laufen, aber Wenger wäre nicht Wenger, wenn er nicht trotzdem unerschütterlich an die eigene Grandiosität glauben würde; selbst dann noch, als seine Schwester Elisabeth ihm in Tupperdosen das Essen vorbeibringt. Als er plötzlich Briefe von einer Frau erhält, die an seinen Vormieter adressiert sind, beginnt etwas ins Rollen zu geraten. In abwechselnden Kapiteln erzählt der Roman nicht nur von Wengers spektakulärem Comeback auf Kosten einer Fremden, sondern auch von dessen Kindern Zoey und Spin. Die haben seit jeher von ihren Eltern nicht viel gesehen. Der Vater als …

Frank Rudkoffsky – Fake

Max ist ein Schreikind. Nach seiner Geburt beginnt für Sophia und Jan ein Leben auf Zehenspitzen, jede ruhige Minute ist ein Geschenk, jede Stunde Schlaf eine Seltenheit. Sophia hat vorübergehend ihren guten Job bei Daimler aufgegeben, Jan ist freier Journalist mit zu wenig Aufträgen. Das Internet wird für beide der Ort, an dem sonst Verschwiegenes schließlich sichtbar wird. Was treibt einen Internet-Troll an? Was veranlasst Menschen, ein ganzes Leben oder eine lebensbedrohliche Krankheit zu erfinden? Das Internet im Allgemeinen und soziale Medien im Speziellen bieten zahllose Möglichkeiten, mit Identitäten und Biographien zu spielen. Manchmal ist es bereits die Liebe zum Spiel allein, die als Antrieb für Lügengeschichten dient. Manchmal ist es aber auch eine Lebenssituation, die so ohnmächtig macht, dass sie mit Macht und Kontrolle kompensiert werden muss. Als Sophia Max bekommt, ändert sich ihr Leben schlagartig. Max ist das Zentrum ihrer Welt, sein exzessives Schreien raubt ihr den letzten Nerv. Erst sind es nur kleine Sticheleien in Internetforen für Eltern, die Sophia aus Wut über Besserwisserinnen und Übermütter absetzt. Stück für Stück aber wird …

#buchpreisbloggen. Eva Schmidt: Die untalentierte Lügnerin

Maren kehrt nach einem gescheiterten Schauspielstudium und einem anschließenden Klinikaufenthalt zu ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zurück. Konflikte, die unausgesprochen unter der Oberfläche schwelen, lassen die familiäre Fassade Stück für Stück auseinanderbrechen. Marens Freundin Lisa habe sich immer gewünscht, in einem so schönen Haus am See zu wohnen, heißt es im Roman. Maren habe es gut. Wie sie da so lebe zwischen Loungesesseln, teurem Sekt und bodentiefen Fenstern mit Blick auf die idyllische Natur. Innerhalb von Marens Familie ist wenig idyllisch. Ihre Mutter Vera ist eine erfolglose aber vielbeschäftigte Künstlerin mit eigenem Atelier, die für ihre Tochter wenig Wärme und Fürsorge erübrigen kann. Ihr Stiefvater Robert ist ein unangenehm diffuser Charakter, der immer wieder zwischen Unterstützung und Grenzüberschreitung changiert. Er bietet Maren eine seiner Wohnungen an, lässt sie einziehen, als die Spannungen mit der Mutter unerträglich werden, taucht immer wieder auf mit Geschenken und Geschichten, die die Beziehung zwischen ihm und Vera in einem anderen Licht erscheinen lassen. Sie sollte duschen. Stattdessen setzte sie sich neben die leicht geöffnete Terrassentür, trank Tee und rauchte. Wünschte …

Carolin Emcke – Ja heißt ja und …

Emckes neues Buch, das aus einem kreisenden und suchenden Monolog für die Bühne entstanden ist, wird vorrangig als Beitrag zur #MeToo-Debatte gewertet. Tatsächlich geht es zwar um sexuelle Gewalt und wie das Sprechen darüber möglich ist in einer Gesellschaft, die lieber so wenig wie möglich über Themen wie diese spricht – es geht aber auch um viel grundsätzlichere Fragen des Miteinanders und der Kommunikation. Wahrnehmung, schreibt Emcke, muss man üben. Viel zu oft setzen wir eigene Erfahrungen absolut, ohne darüber nachzudenken, dass sie immer nur einen Ausschnitt aus dem widerspiegeln, was insgesamt passiert. Um etwas für möglich zu halten, muss ich mir zunächst einmal darüber im Klaren sein, dass es passiert. Und ich muss dieses Bewusstsein immer wieder schärfen, Wahrnehmung trainieren. Was auf den ersten Blick vielleicht unterkomplex klingt, ist für die meisten Menschen im täglichen Leben schon eine veritable Herausforderung. Oft genug werden Erfahrungen anderer unter der Prämisse abgewertet, man habe das selbst noch nie erlebt (implizite Schlussfolgerung: Dann muss diese geschilderte Erfahrung entweder ein bedauerlicher Einzelfall oder gar komplett erlogen sein). Emcke schildert …

Kurz & knapp, Teil 2/19.

Im zweiten Teil Kurz & knapp für dieses Jahr geht es um traumatisierende Gewalt, Herkunft, Alltagsrassismus, Verschwörungstheorien und gute Kurzgeschichten. aufgeschrieben ist ein vielstimmiges Gespräch über Gewalt und Trauma. Über das, was davon bleibt, vom “Ich”, das lange sexualisierter Gewalt – z.B. in organisierten Strukturen – ausgesetzt ist. Der Text ist dicht, drückend, in Bewegung, bildhaft und verschlungen. Man begibt sich in ihn hinein wie in einen zeitlosen Raum. H.C. Rosenblatt betreibt seit langsam Ein Blog von Vielen, zu dem u.a. auch ein Podcast gehört. Er erzählt vom Leben mit dissoziativer Identitätsstruktur, vom Überleben, vom Kampf um Autonomie und dem normierenden Blick der anderen. aufgeschrieben ist ein Destillat dieser Themen, ein Ringen um Worte für das Unaussprechliche, der Versuch, sich schreibend zu erfahren. Es gibt keine Handlung im klassischen Sinne, sondern die Perspektiven verschiedener Persönlichkeiten, die alle jeweils Teile des Traumas tragen und verkörpern. Ein wichtiges Buch über ein Thema, das breitere Aufmerksamkeit und mehr Bereitschaft zur Auseinandersetzung verdient. H.C. Rosenblatt: aufgeschrieben. edition assemblage. 96 Seiten. 15,00 €. Der Platz erschien im Original bereits 1984. …

Kurz & knapp rezensiert, Teil 1/19.

Es hat sich wieder so einiges auf meinem Schreibtisch angesammelt, von dem ich erzählen wollte. Allein Zeit und Worte fehlten mir. Deshalb jetzt: Ein frühlingshaft belebender Mix aus Romanen & Graphic Novel. Die Geschichte des männlichen Genies ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Im Rampenlicht der kluge, erfinderische Mann, dessen Geisteskraft ihn längst in unerreichbare Höhen katapultiert hat; in seinem Rücken die Frau, die ihm denselbigen frei hält. Auch wenn dieses Narrativ zunehmend hinterfragt wird, hat es lange Zeit erheblichen Einfluss darauf ausgeübt, was wir von weiblichen Perspektiven und Errungenschaften wissen. Liv Strömquist bricht in I’m every woman mit eben diesen Erzählungen, die die Frau zu einer Marginalie – oder schlimmer: zur zerstörerischen Furie – umdeuten. Anders als in Der Ursprung der Welt oder der Ursprung der Liebe geschieht das im aktuellen Band auf etwas losere, schlaglichtartige Weise. Es werden die unsäglichsten Lover der Geschichte gekürt, mit dabei Pablo Picasso (auf den auch Hannah Gadsby in ihrem Bühnenprogramm Nanette sehr ausführlich zu sprechen kommt), Albert Einstein und Edvard Munch. Strömquist zeichnet an gegen queerfeindliche und biologistische …

Anselm Neft – Die bessere Geschichte

Tilman Weber ist sensibler als seine Altersgenossen und wird nicht selten von ihnen dafür verspottet. Nachdem seine Mutter sich das Leben genommen hat, wächst er allein bei seinem Vater auf. Der kümmert sich zwar bestens um Tilmans Bildung, dafür weniger um dessen Ängste und Nöte. Als eine neue Frau mit reformpädagogischen Neigungen in sein Leben tritt, reift der Entschluss, den dreizehnjährigen Tilman in der „Freien Schule Schwanhagen“ unterzubringen – einer „Art Terrorzelle“ aus der Sicht konservativer Lehrkräfte. Alles ist anders an der FSS nahe der Ostsee. Die Kinder und die Lehrkräfte sollen keine Opponenten sein, sondern auf Augenhöhe Erfahrungen austauschen. An einem Ort, wo das klassische Machtgefälle zwischen Schülern und Lehrern aufgelöst werden soll, etabliert es sich hinter der Fassade reformerischen Glanzes auf viel perfidere Weise neu. Die fiktive “Freie Schule Schwanhagen”, von Anselm Neft nach dem Vorbild der Odenwaldschule konzipiert, besteht aus verschiedenen Häusern, denen jeweils eine Lehrkraft vorsteht und dessen Bewohnern sie in besonderer Weise Förderung ermöglicht. Der Unterricht wird frei gestaltet, die Schüler sollen sich ausprobieren. Jeder so wie er kann und …