Kultur, Kurz & Knapp, Rezensionen
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Kurz & knapp rezensiert, Teil 1/19.

Es hat sich wieder so einiges auf meinem Schreibtisch angesammelt, von dem ich erzählen wollte. Allein Zeit und Worte fehlten mir. Deshalb jetzt: Ein frühlingshaft belebender Mix aus Romanen & Graphic Novel.

Die Geschichte des männlichen Genies ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Im Rampenlicht der kluge, erfinderische Mann, dessen Geisteskraft ihn längst in unerreichbare Höhen katapultiert hat; in seinem Rücken die Frau, die ihm denselbigen frei hält. Auch wenn dieses Narrativ zunehmend hinterfragt wird, hat es lange Zeit erheblichen Einfluss darauf ausgeübt, was wir von weiblichen Perspektiven und Errungenschaften wissen. Liv Strömquist bricht in I’m every woman mit eben diesen Erzählungen, die die Frau zu einer Marginalie – oder schlimmer: zur zerstörerischen Furie – umdeuten. Anders als in Der Ursprung der Welt oder der Ursprung der Liebe geschieht das im aktuellen Band auf etwas losere, schlaglichtartige Weise. Es werden die unsäglichsten Lover der Geschichte gekürt, mit dabei Pablo Picasso (auf den auch Hannah Gadsby in ihrem Bühnenprogramm Nanette sehr ausführlich zu sprechen kommt), Albert Einstein und Edvard Munch. Strömquist zeichnet an gegen queerfeindliche und biologistische Argumente von Natürlichkeit, gegen die Norm der klassischen Familie und die Idee, dass Gleichstellungsmaßnahmen als reine quantitative Ausgleichsmaßnahmen alles sind, was wir noch vor uns haben. Wie immer clever, scharfzüngig, bösartig.

Liv Strömquist: I’m every woman. Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. avant Verlag. 112 Seiten. 20,00 €.

Joey Goebel hat ein Herz für Außenseiter. In seinem aktuellen Buch, das im Grunde eine Sammlung miteinander verschränkter Kurzgeschichten ist, sammeln sich die Zurückgelassenen in der fiktiven Kleinstadt Moberly. Männer himmeln vom Spielfeldrand des Alltags die bildschöne Nachrichtensprecherin an, die in dieser Stadt, in die es sie verschlagen hat, doch lieber nicht wäre. Ein anderer leidet des Nachts in einem Hotel daran, dass er nach der Trennung seinen Sohn nicht öfter sehen kann. Ein Teenager macht sich mit einer Band Luft über die Piefigkeit und Enge der Provinz. Goebel hat ein Auge dafür, was diese Protagonist*innen umtreibt, wonach sie sich sehnen und woran sie scheitern. Er beschreibt sie mit Liebe zum Detail, mit einem Einfühlungsvermögen, das auch in seinen anderen Romanen bereits zum Tragen kam. Etwas hemmt diese Menschen, die zu sein, die sie gern wären. Oft sind sie unverschuldet hineingeraten in eine unkomfortable Lage. Goebel selbst sagt, er habe nach der Wahl Trumps zu mehr Ernsthaftigkeit gefunden, da die Satire offensichtlich bereits von der Realität erledigt werde. Mir erscheint Irgendwann wird es gut nicht drastisch ernster, es ist ein klassisches Goebel-Buch. Nicht viel mehr, ganz bestimmt aber auch nicht weniger als das.

Joey Goebel: Irgendwann wird es gut. Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog. Diogenes Verlag. 320 Seiten. 22,00 €.

Kanada wurden in Auschwitz die Effektenlager genannt, in denen die Wertgegenstände und Habseligkeiten der Inhaftierten aufbewahrt wurden. Häftlinge eines Sonderkommandos waren dafür abgestellt, die Ermordeten nach Besitz zu durchsuchen, der dort eingelagert und zu Geld gemacht werden konnte. Juan Gómez Bárcena beschreibt nun in Kanada die Heimkehr eines solchen Häftlings nach Budapest und den tiefen Riss, der sich nach all den unaussprechlichen Grauen durch sein Leben zieht. Der überwältigende und beklemmend geschriebene Roman beginnt mit den Sätzen: Dein Haus steht noch. Du hattest die Hoffnung, dass es eingestürzt wäre. Ein namenloser Mann, einst Professor an der Universität, kehrt in ein geplündertes Haus zurück, wo er notdürftig von seinem Nachbarn mit Essen versorgt wird. Die Zeit ist stehengeblieben und diese Zeitlosigkeit dominiert den Ablauf des Romans. Gestern kann nicht gestern werden, es bricht immer vehementer in die Gegenwart ein. Der Heimkehrer verlässt seine Wohnung nicht, nicht einmal das Zimmer, in dem er schläft, isst und seine Notdurft verrichtet. Fast erscheint es, als bilde sich in der Wohnung erneut der Lageralltag ab, das Zurückkommen ist eine stetige Reinszenierung, ein ständiges Wiedererleben. Der gesamte Roman ist aus der Du-Perspektive heraus erzählt, unmöglich, davon nicht auf eine ganz besondere Art berührt zu sein und erschrocken über die Unmittelbarkeit. Kanada erzählt vom Unaussprechlichen auf eine so poetische und kraftvolle Art, wie man es selten liest. Viel ist geschrieben worden über den Holocaust und über Auschwitz. Wenig mit so einer Wucht wie dieser Roman.

Juan Gómez Bárcena: Kanada. Aus dem Spanischen von Steven Uhly. Secession Verlag. 192 Seiten. 20,00 €.

An Clemens Setz scheiden sich die Geister. Die einen schütteln den Kopf über das, was gern “kauzig” genannt wird, über die gepflegte Abschweifung in seiner Prosa, das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit, die erfinderischen Metaphern, die mancher schief und ein anderer kreativ findet. Ich erzähle nun kein Geheimnis mehr, wenn ich sage, dass ich nicht zu diesen Kopfschüttler*innen gehöre, denn ich liebe Setz für genau das, was anderen offenbar gehörig auf den Senkel geht. Seine jüngsten Erzählungen in Der Trost runder Dinge (in Indigo heißt es noch: Alles Runde ist ein Mysterium, eben weil es rund ist, wirklich tröstlich ist vielleicht eben gerade das Mysterium!) erzählen von der Einsamkeit der Wahrnehmung. Ein Familienvater leidet unter Panikattacken und hofft, als der Sohn ähnliche Symptome entwickelt, er könne von ihm verstanden und gesehen werden. Die Beschwerden des Sohnes jedoch verschwinden mit der Einnahme eines handelsüblichen Mittels gegen Sodbrennen, die Brücke zwischen beiden stürzt ein. Setz hat seit jeher ein Talent für das Absonderliche, das leicht Verschobene, das in seinen Texten immer wieder Verfremdungseffekte entstehen lässt, selbst dort, wo eigentlich alles gewöhnlich erscheint. Wenn ein Mann eine blinde Frau kennenlernt, sie nach Hause begleitet und dort an den Wänden obszöne Schmierereien entdeckt. Sich plötzlich fragen muss: Sage ich ihr, was sie nicht sehen kann? Setz erfindet ein Sternbild, einen in Vergessenheit geratenen Maler und ein Or. Er schreibt sich auch selbst als jungen Grazer Autor ein, dessen Roman Die Ferkelszenen zu einiger Berühmtheit gelangt ist. Seine Geschichten sind einfallsreich, sie haben diesen Setz-Sound, in den man sich hineinfallen lassen kann – und bis zu einem gewissen Grad vielleicht auch muss. Traurig, anrührend, witzig, bizarr, all das und viel mehr noch.

Clemens J. Setz: Der Trost runder Dinge. Suhrkamp Verlag. 320 Seiten. 24,00 €.

Unlängst wurde im Literarischen Quartett über Yishai Sarids Monster debattiert. Worum es auf der Handlungsebene geht, ist schnell erklärt: ein israelischer Historiker wird, gedrängt durch die Gegebenheiten seiner Zunft, schließlich Experte für die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten. Mit Holocaustforschung kann man sich einen Namen machen, er entscheidet sich auch aus Mangel an Alternativen dafür. Er wird Spezialist für die verschiedenen Konzentrationslager im Osten, führt Schüler*innen, Politiker*innen und Tourist*innen durch die Gedenkstätten und fügt sich als Zahnrädchen in die Erinnerungskultur. Stück für Stück beginnt ihm jedoch, auch vor dem Hintergrund der verschiedenen Schülergruppen, die Ritualhaftigkeit seines Tuns bewusst zu werden. Etwas bröckelt in ihm und immer öfter bricht es sich Bahn, sehr zur Irritation der gerade von ihm geführten Gruppen. Ein Zeitzeuge, der die Führungen unterstützen sollte, bricht in Auschwitz zusammen, für ihn ist zu viel, was andernorts Teil einer Erinnerungsindustrie geworden ist. Es werden Computerspiele programmiert, die das Lagerleben nachempfinden sollen. Im Zuge pompöser Gedenkveranstaltungen soll mithilfe des Militärs die Befreiung der Lager nachgespielt werden. Es gerät außerordentlich grotesk, was die Erinnerung an das millionenfache Sterben sichern soll. Erinnern wird zur Farce, Erinnern ist das Monster. Sarids Roman ist nicht versöhnlich, er ist wie der sprichwörtliche – auf Handlungsebene auch wie der tatsächliche – Schlag ins Gesicht. Wie kann Erinnerung gelingen? Kann es überhaupt? Gibt es eine Alternative? Ein starkes, unbequemes Buch!

Yishai Sarid: Monster. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber. 176 Seiten. 21,00 €.

Unter welchen Umständen lebten Frauen zu verschiedenen Zeiten? Welche Fragen stellten sich ihnen? Welche Möglichkeiten hatten sie? Julia Zejns Graphic Novel Drei Wege verhandelt diese Fragen vor dem Hintergrund dreier Biographien an jeweils entscheidenden historischen Wegmarken: 1918, 1968, 2018. Ida arbeitet 1918 als Dienstmädchen, Marlies gerät in die Demonstrationen und Diskurse der 68er, Selin hat 2018 so viele Freiheiten – auch erkämpft und erstritten von ihren Vorgänger*innen -, dass sie sich fast von ihnen überfordert fühlt. Mit genauer Beobachtungsgabe und Sinn für die Bedingungen und Beschränkungen der jeweiligen Zeit wirft Julia Zejn zunächst Schlaglichter auf die einzelnen Biographien, bis sie am Ende auf kunstvolle Art zusammengeführt werden. Wie prägt uns unsere Umwelt? Was haben wir schon erreicht? Was können wir noch erreichen? Diese und viele andere Fragen wirft diese wirklich fantastische Graphic Novel auf, von der ich schon lange mehr erzählen wollte. Jetzt ist es soweit. Es lohnt sich sehr, Drei Wege zu lesen. Ein kenntnisreiches, kluges Buch über drei ganz verschiedene Frauen!

Julia Zejn: Drei Wege. avant Verlag. 184 Seiten. 25,00 €.

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