Unlängst ist sein Roman “Die bessere Geschichte” erschienen, der sich mit institutionellem Missbrauch beschäftigt. Ich habe mit Anselm Neft über das Thema Missbrauch im Roman gesprochen, über gesellschaftliche Debatten und den Tatort am Sonntag.
Dein Roman steht jetzt seit vier Wochen in den Buchläden – wie waren die Reaktionen bislang? Gab es Überraschungen für dich?
Ich bin tatsächlich überrascht darüber, wie positiv die Reaktionen sind. Fast täglich meldet sich eine begeisterte Leserin oder ein begeisterter Leser. Ich freue mich sehr darüber, andererseits frage ich mich manchmal, ob ich etwas falsch gemacht habe. Ich hatte mit mehr Widerstand und Widerspruch, auch mit Wut gerechnet. Offenbar renne ich nur eine offene Tür ein – und das schmeichelt meinem Autoren-Ego nur bedingt.
Ein Buch über institutionellen, sexuellen Missbrauch zu schreiben, ist eine Sache. Ihn bei einem Verlag unterzubringen vermutlich noch eine andere, obwohl er sehr linear erzählt ist. Bist du da auf Schwierigkeiten oder Vorbehalte gestoßen?
Ja. Zum einen bin ich von mehreren Leuten, die es wissen sollten, darauf hingewiesen worden, dass das Thema Kassengift sei und für Verlage sehr problematisch. Mein jetziger Lektor war auch anfangs hin- und hergerissen. Er fand den Stoff einerseits sehr interessant, hatte aber andererseits Bedenken, es im Verlag zu kommunizieren. Schließlich haben ihn die Umsetzung und mein Auftritt beim Ingeborg Bachmann Preis in Klagenfurt überzeugt.
Wann ist der Entschluss gefallen, dieses Buch zu schreiben?
Etwa 2012. Seit 2010 habe ich mich verstärkt mit sexueller Gewalt gegen Minderjährige befasst, weil ich einer Gruppe beigetreten bin, die sich mit den Verbrechen und Vergehen am Aloisiuskolleg befasste – einer Jesuitenschule bei Bonn, die ich zwischen 1983 und 1992 besucht habe. Die erste Version des Buches habe ich jedoch nach 150 Seiten verworfen, weil ich merkte, dass etwas fehlt. Ich brauchte eine neue Haltung, eine andere Erzählperspektive und bin schließlich beim jetzigen Icherzähler angekommen.
Du warst selbst Schüler auf dem Bonner Aloisiuskolleg, das sich seit 2010 mit Missbrauchsanschuldigungen auseinandersetzen musste und im Zuge dessen in der Aufklärungsarbeit tätig. Mit Tilman Weber hast du eine Figur geschaffen, die manches mit dir teilt – so u.a. die Liebe zu Edgar Allen Poe. Was entgegnest du Leuten, die jetzt zwanghaft deine eigene Biographie in dem Roman erkennen wollen?
Es ist ein Roman. Wirklich. Es gibt ein, zwei Anspielungen auf das Aloisiuskolleg und die Odenwaldschule, aber das Internat und sämtliche Personen sind rein fiktiv. Auch der Icherzähler. Ich finde es befreiend, wenn ich mich nicht an historischen Fakten orientieren muss. Und auf keine realen Personen Rücksicht nehmen muss. Die Stärke der Gattungsform Roman liegt für mich unter anderem darin, dass durch sie Einsichten in die Wirklichkeit verdichtet, destilliert und überhöht werden können, am besten auf eine Weise, die vielschichtige Lesarten ermöglicht.
Wir stellen uns die Täter*innen zu schnell als Monster vor und glauben, moralische Empörung und Rigorosität würde den Betroffenen helfen. Sie soll aber bloß uns selbst helfen und schadet den Betroffenen häufig eher.
Anselm Neft
Der Roman legt die Dynamik von Missbrauch sehr detailliert bloß. Wie sind die zwischenmenschlichen Beziehungen gestaltet, was ermöglicht (institutionellen) Missbrauch etc. Glaubst du, dass diesbezüglich in der breiteren Öffentlichkeit noch Aufklärungsbedarf besteht?
Ja. Ich denke, die Aufklärung ist auf einem guten Weg. Aber ich denke, viele wissen wenig über die Hintergründe von unterschiedlichen Tatmotivationen. Wir stellen uns die Täter*innen zu schnell als Monster vor und glauben, moralische Empörung und Rigorosität würde den Betroffenen helfen. Sie soll aber bloß uns selbst helfen und schadet den Betroffenen häufig eher. Die Täter*innen in unserem Nahumfeld übersehen wir in der Regel, weil die ja nett und cool und interessant sind. Das können ja keine Monster sein. Und die ambivalenten Gefühle der Betroffenen nehmen wir nicht ernst: Die sollen denjenigen hassen, der ihr Vertrauen missbraucht hat. Schön eindeutig. Aber diese Eindeutigkeit empfinden viele nicht. Was spricht dagegen, einfach zuzuhören, anstatt immer gleich urteilen zu müssen? Also Räume anbieten, anstatt eng machen? Und warum sind wir so fixiert auf Kindesmissbrauch, sobald er sexualisiert ist? Kinder werden täglich auf zig Weisen missbraucht. Michael Jackson hatte keine Kindheit, weil sein Vater ihn nicht als eigenständiges Lebewesen, sondern als verlängerten Arm seiner Größenphantasie betrachtet hat. Der Kern des Missbrauchs ist nicht Sex, sondern dass Erwachsene, ihren Mangel an Kindern kompensieren. So wie offenbar später Michael Jackson seinen Mangel an Kindern kompensiert hat.
Ich hatte den Eindruck, dass die Darstellung dieser Dynamiken, dieser Verflechtungen und Verdrehungen, sehr zentral ist im Roman. Es fällt leicht, als Leser*in Schritt für Schritt nachzuvollziehen, wie die Manipulation stattfindet und wie Schweigen gesichert wird. War dir das besonders wichtig?
Ich habe mich als Religionswissenschaftler viel mit Sekten und den entsprechenden Dynamiken befasst. Mich interessiert einfach, wie wir erzogen werden, wie wir uns selbst erziehen und welche Verleugnungen dabei stattfinden. Im Missbrauchskontext oder in Sekten ist das besonders deutlich, krass und einschneidend für die Persönlichkeitsentwicklung, aber es betrifft alle Menschen, spätestens ab der Pubertät.
Wir sehen heute auch mehr, dass Traumata tatsächlich durch Generationen weitergegeben werden können und nicht allein durch Reflexion aufzuheben sind.
Anselm Neft
Ich bemerke selbst immer wieder, dass viele Menschen sich zwar empören, wenn Missbrauchsfälle bekannt und öffentlich diskutiert werden, die Kenntnis darüber, welche Folgen Traumatisierung hat aber sehr vage und diffus ist. Nimmst du das auch so wahr, bzw. findest du das (wie ich) etwas problematisch?
Das Wissen über Traumata wächst, also beispielsweise, dass es Entwicklungs- und Schocktraumata geben kann, dass ein Traumata nicht allein eine Verwundung, sondern auch der verstetigte Versuch ist, sich vor einer neuer Verwundung zu schützen, und dass dieser verstetigte Versuch Krankheitsbilder erzeugt, wie zum Beispiel eine ständige Alarmbereitschaft des Körpers bis hin zu Veränderungen auf biochemischer Ebene. Wir sehen heute auch mehr, dass Traumata tatsächlich durch Generationen weitergegeben werden können und nicht allein durch Reflexion aufzuheben sind. Trotz dieses Wissens sehen wir in der Regel nicht, dass Menschen mit anstrengenden, ungesunden, süchtelnden, bedürftigen, störanfälligen, ängstlichen oder aggressiven Verhaltensweisen nicht einfach dicke, cholerische, kontrollgeile, alkoholkranke, beziehungsunfähige, arbeits- oder sexsüchtige Freaks auf dem Weg ins nächste Burn-Out sind, sondern dahinter die oft verzweifelten Versuche stehen, mit großen inneren Turbulenzen klar zu kommen. Und die gehen wiederum auf Traumata zurück, also eine nicht-konstruktive oder komplett defekte psychische Wundheilung könnte man sagen. Die sucht sich niemand aus. Verurteilungen bringen da gar nichts. Weder gegenüber sich selbst noch gegenüber anderen. Ich müsste es wissen, ich habe es sehr ausdauernd versucht. Unsere Urteile funktionieren außerdem oft recht mittelalterlich: Wir köpfen die Überbringer der schlechten Nachricht, um uns selbst den Blick in eine ungerechte und von Zufällen bestimmte Welt zu ersparen.
„Die bessere Geschichte“ greift ein schwieriges Thema auf, das für viele mit großen Berührungsängsten verknüpft ist. Wie kann man, glaubst du, diese Ängste ein Stück abbauen? Ist das durch ein etwas verändertes Gesellschaftsklima vielleicht auch schon geschehen?
Ich habe versucht, einen spannenden, interessanten, also leser*innenfreundlichen Roman zu schreiben, in der Hoffnung, so die Berührungsängste zu mildern. Und ich glaube, dass beispielsweise „metoo“ dazu beigetragen hat, dass Betroffene sexueller Gewalt weniger als „bemitleidenswert aber irgendwie ihh“ wahrgenommen werden. Das Thema ist derzeit wieder präsenter, es gibt das Projekt „Kein Täter werden“ an der Berliner Charité. Auch das erzeugt ein etwas offeneres Klima sich mit Fragen rund um das Themenfeld „sexualisierte Gewalt“ zu befassen, zum Beispiel auch, ob „sexualisierte Gewalt“ ein treffenderer Begriff für das ist, was sonst oft „sexueller Missbrauch“ genannt wird.
Wenn jemand der Kopf weggeschossen wird, lässt uns das oft vergleichsweise kalt, wohingegen die Zahnarztszene in „Der Marathonmann“ von ursprünglich 8 Minuten auf 30 Sekunden gekürzt wurde. Die Testzuschauer*innen waren entsetzt.
Anselm Neft
Was glaubst du, weshalb viele Menschen zwar jeden Sonntag leidenschaftlich Krimis sehen können, in denen Mord und jedwede Form von Gewalt abgehandelt wird, vor Literatur über Gewalt – jedenfalls wenn sie nicht im klassischen Krimi-Gewand daherkommt – so oft zurückschrecken?
Ich glaube, die gewaltpornographischen Thriller und harten Krimis funktionieren eher wie Märchen für Erwachsene, das heißt, sie werden als nicht-real, eher symbolisch rezipiert. Auch sind sie so überzogen, dass man keinen Bezug zum eigenen Erleben herstellen kann. Wenn jemand der Kopf weggeschossen wird, lässt uns das oft vergleichsweise kalt, wohingegen die Zahnarztszene in „Der Marathonmann“ von ursprünglich 8 Minuten auf 30 Sekunden gekürzt wurde. Die Testzuschauer*innen waren entsetzt.
Du sagst selbst von dir, du möchtest kein „Debattenbuch“ schreiben, das sich erkennbar an gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen abarbeitet. Was wünschst du dir für das Buch?
Eine vielschichtige Leserschaft, die sich für Vielschichtigkeit und die Möglichkeiten der Literatur interessiert.
Foto des Autors: Maren Kaschner
Anselm Neft: Die bessere Geschichte. Rowohlt Verlag. 480 Seiten. 22,00 €.