Kurz & Knapp, Rezensionen
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Kurz & knapp, Teil 3/19.

Es ist ein Irrglaube, dass soziale Medien und neue Technologien den Extremismus erst hervorbrächten, der allenthalben auf ihnen zu sehen ist. Nichtsdestotrotz fungieren sie als Katalysatoren für Fundamentalisten, beschleunigen Radikalisierungsprozesse, geben Instrumentarium an die Hand, das es noch vor zwanzig Jahren in dieser Form nicht gab. Obwohl Fundamentalisten, ob am rechten Rand oder im islamistischen Milieu, eine rückwärtsgewandte Ideologie vertreten, machen sie sich modernste Techniken zunutze, um sie zu verbreiten. Julia Ebner (die bereits mit Wut ein Buch über die Funktionsmechanismen extremistischer Propaganda geschrieben hat) liefert in Radikalisierungsmaschinen einen Einblick in verschiedene Gruppierungen: Identitäre und die Neue Rechte, Antifeministinnen, Dschihadisten, militante Männerrechtler, ein Datingportal ausschließlich für Weiße. Sie untersucht, wie deren Medien- und Mobilisierungsstrategien funktionieren und demaskiert damit nicht nur innere Widersprüche, sondern auch interne Strategien. So gibt die Alt-Right rund um die Demonstrationen in Charlottesville die Anweisung heraus, Anhänger geringerer Attraktivität sollten lieber zuhause bleiben. Nazis sind heute adrett und gutaussehend. Wer das nicht ausstrahlt, gefährdet den Erfolg der Gruppe. Ebner macht deutlich, dass extremistische Gruppen mittels modernster Technologien den Diskurs bestimmen, obwohl sie gesamtgesellschaftlich betrachtet deutlich in der Minderheit sind. Sie verzerren ihre Diskursmacht, um am Ende genau die tatsächlich an sich zu reißen. Und das Buch stellt klar: Es gibt nicht nur die großen Plattformen des Silicon Valley. Strafrechtlich Relevantes wird längst auf anonyme Plattformen, Imageboards und Server outgesourced oder findet in Gruppen mit strikter Zugangsbeschränkung statt. Ein wichtiges, aber auch erschreckendes Buch, das man unbedingt lesen sollte!

Julia Ebner: Radikalisierungsmaschinen. Suhrkamp. 334 Seiten. 18,00 €.

Levi ist elf und unfreiwilliger Zeuge, als seine Mutter getötet wird. Verstört und verwirrt von den Ereignissen entwendet er auf ihrer Beerdigung die Urne und zieht sich auf das Dach seines Wohnhauses in ein Zelt zurück. Er muss nachdenken, sich und die Welt neu ordnen, nachdem der Tod in sie hereingebrochen ist. Hilfe erhält er dabei von Kioskbesitzer Kolja, einem ehemaligen Kriegsfotografen und Vincent, einem etwas mysteriösen Nachbarn, der hin und wieder in schräge Geschäfte verwickelt ist. Sie alle eint die Begegnung mit dem Tod ihnen nahestehender Menschen, sie alle versuchen sich einen Reim darauf zu machen, was das bedeutet. Carmen Buttjers Roman kommt von Beginn an schräg (oder, wie der Klappentext es nennt, “eigenwillig”) daher, etwas märchenhaft gar, was nicht unwesentlich an Levis Perspektive liegt und die grausamen Ereignisse erzählerisch etwas abfedert. Der Junge ist außerordentlich klug und fantasiebegabt, immer wieder kreuzen sich vermeintliche Wirklichkeit und Levis Interpretation. Die Großstadt ist mehr Dschungel als Stadt und über allem liegt eine Bedrohung, die den Text vereinzelt Richtung Kriminalroman kippen lässt: Wer hat Levis Mutter – eine Pathologin – getötet? Und warum lügt sein Vater, als die Polizei ihn fragt, wo er am Tatabend gewesen ist? Levi steckt, trotz aller Ernsthaftigkeit, voller wunderbarer Passagen, Dialoge und Bilder, die Annäherung sind an das Unbegreifliche. Ein gelungener Roman mit einem ganz eigenen Sound.

Carmen Buttjer: Levi. Galiani. 272 Seiten. 20,00 €.

Als der Spiegel im Dezember 2018 bekanntgibt, dass einer seiner Reporter Texte in großem Stil gefälscht hat, erschüttert das eine ganze Branche bis ins Mark. Journalismus lebt nicht nur von guter und sauberer Recherche, er ist auch auf das Vertrauen von Leser*innen angewiesen, die in der Regel nicht alle Behauptungen haarklein nachrecherchieren können. In einer Zeit, in der gesellschaftliche Institutionen und ihre Glaubwürdigkeit permanent seitens extremistischer Kräfte unter Beschuss stehen, ist ein Fall wie der von Claas Relotius verheerend. Juan Moreno, selbst Reporter beim Spiegel und der Mann, der das “System Relotius”, wie er es nennt, gegen große interne Widerstände schließlich aufgedeckt hat, hat nun ein Buch über den Fall geschrieben. Tausend Zeilen Lüge rekonstruiert minutiös den Ablauf und seine Bemühungen, Relotious – der zu diesem Zeitpunkt bereits als Leiter für das Gesellschaftsressort in Position gestanden hatte – die Fälschungen nachzuweisen. Offensichtlich musste das Buch schnell geschrieben werden: nicht nur finden sich zahlreiche Schreibfehler und manche Redundanz, sondern angeblich auch Ungenauigkeiten im Text, die Relotius nun dazu gebracht haben, juristisch gegen Morenos Buch vorzugehen. Wie erfolgreich oder berechtigt das ist, vermag ich nicht zu beurteilen – dass Moreno nicht mit Personen gesprochen habe, die Relotius kannten, stellt das Buch anders dar; an Relotius Fälschungen ändert das wenig. Dessen ungeachtet muss ein Buch, das journalistische Erfindungen zu recht anprangert, sich gefallen lassen, dass an seine Darstellungen ein hoher Maßstab angelegt wird. Wohin dieser Einspruch Relotius’ nun führt, wird sich zeigen: Alles in allem liefert Moreno eine flüssig und schlüssig geschriebene Rekapitalution der Ereignisse und mögliche Erkärungsansätze für Relotius’ grandiosen Erfolg. Viele Fragen wurden dazu aufgeworfen, u.a. zum Stil der Reportage generell oder zum Zustand eines Metiers, das in Relotius ein langersehntes Mittel gegen schwindende Auflagen zu erkennen meinte. Meines Erachtens ist Moreno vor allem dort stark, wo er offen und selbstkritisch über diese Fragen nachdenkt.

Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Rowohlt Verlag. 288 Seiten. 18,00 €.

Für Esther besteht die Welt, seit sie denken kann, einerseits aus denen, die die Wahrheit gesehen haben und solche, die blind geblieben sind. Mit ihren Eltern wächst sie bei den Zeugen Jehovas auf und wird von kleinauf nicht nur zum Bibelstudium und Predigtdienst verpflichtet, sondern auch von “Weltmenschen” isoliert. Freunde hat sie ausschließlich innerhalb der Glaubensgemeinschaft, in der strenge Regeln für die Lebensführung gelten: begonnen bei der Musik, die man hören und den Sendungen, die man im Fernsehen anschauen darf, bishin zu den Vorbereitungen für Harmagedon – der Apokalypse, die die Zeugen Jehovas, im Gegensatz zu den “Weltmenschen”, aufgrund ihres gottgefälligen Lebens unbeschadet überstehen. Stefanie de Velasco erzählt in Kein Teil der Welt auf zwei Zeitebenen nicht nur von Esther, sondern auch von deren bester Freundin Sulamith, deren Widerständigkeit und Rebellion zur Katastrophe und schließlich auch zu einem überhasteten Umzug in eine andere Stadt führen. de Velasco wuchs selbst bei den Zeugen Jehovas auf; mit 15 verließ sie die Sekte. Nun wäre es leicht, den Roman einfach autobiographisch zu lesen. Und sicher wird er mit eigenen Erfahrungen angereichert sein. Aber auch ohne einen autobiographischen Hintergrund ist de Velascos Roman eine starke Geschichte über persönliche Freiheit und Emanzipation innerhalb eines strengstens reglementierten Umfelds. Esther entwickelt sich. Und während sie zunächst noch Sulamith gegenüber in der Rolle der Verteidigerin ihrer religiösen Überzeugungen auftritt, gelangt sie im Zuge der Ereignisse im Roman zu ganz ähnlichen Schlüssen. Kein Teil der Welt ist beklemmend, befremdlich und eindrücklich erzählt. Während die Zeugen Jehovas stetig damit argumentieren, wie verkommen die “Weltmenschen” seien (heidnische Feste, Scheidungen, diverses Teufelszeug), sind die Protagonist*innen selbst nicht frei von Abgründen und Geheimnissen. Stück für Stück muss bröckeln, was nur für die Propaganda-Broschüren so paradiesisch gezeichnet worden ist.

Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt. Kiepenheuer & Witsch. 432 Seiten, 22,00 €.

Was bleibt, wenn das Gedächtnis langsam zerfällt? Wenn wir vergessen, wer wir einmal waren und mit wem, warum und wieso? David Wagner schildert in Der vergessliche Riese die fortschreitende Demenz seines Vaters. Ähnlich wie bereits in Leben orientiert sich der Text an autobiographischen Eckpunkten: Der Ich-Erzähler ist wie Wagner in Andernach geboren, beide leben sie in Berlin und schreiben, beide haben sie eine Tochter. Episodisch gegliedert erzählt Wagner von Besuchen bei seinem Vater und dessen Schwierigkeiten, sich in Zeit und Welt zu orientieren. Immer wieder führen die beiden fast wortgleiche Gespräche: über das Auto, das der Vater mal fuhr oder seine Frauen, die ihm “alle wegsterben”. Oft fahren die beiden los und nur kurz danach fragt der Vater bereits, wohin sie fahren oder woher sie kommen. Die Zeit schrumpft zusammen auf den Moment, das Jetzt und Hier. Mit ungemein berührender Empathie beschreibt David Wagner Situationen, die einerseits tieftraurig, andererseits aber auch Anlass sind, einander näherzukommen. War der Vater früher ein Riese – kräftig und bestimmt, aber eben auch eher auf Distanz -, verändert die Situation nun die Rollen und schafft einen Zugang, wo vorher lange keiner war. “Freund”, nennt der Vater seinen Sohn. Wenig ist übrig vom früheren Machtgefälle und tatsächlich liest sich Wagners Text streckenweise nicht wie eine Vater-Sohn-Geschichte, sondern deutlich universeller. Zwischen all dem Verlust von Gedächtnis und Kohärenz glänzen immer wieder Dialoge über das Leben und alles Absurde darin. Trotz aller ernsten Hintergründe gelingt es Wagner, leicht zu erzählen, mit Humor und ja, Achtsamkeit. Momente, in denen die Geduld am Ende ist oder die Kraft zur Neige geht, erzählt der Roman allenfalls andeutungsweise, auch wenn man ahnt, dass es sie wohl gegeben haben muss. Die Ausflüge mit und Besuche bei seinem Vater wirken entschleunigend, die Schilderungen sind vor allem geprägt von Warmherzigkeit und Offenheit einem Menschen gegenüber, den man zu kennen glaubte – und jetzt vielleicht noch einmal ganz neu kennenlernt. Ein ruhiges, sehr empfehlenswertes Buch.

David Wagner: Der vergessliche Riese. Rowohlt Verlag. 272 Seiten. 22,00 €.

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