Kultur, Kurz & Knapp
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Kurz und knapp rezensiert im Juni!

Nach einer längeren Blogpause geht es im Juni um die Toten und ihr Resüme, pointierte Cartoons zu Kultur- und Literaturbetrieb, Utopien und eine unverzeihliche Grenzüberschreitung.

Mit Der Trafikant (ab Herbst übrigens im Kino) und Ein ganzes Leben hat Robert Seethaler bereits feinsinnige, sprachlich sehr elegante Romane geschrieben; sein neuester Wurf ist ein Chor verschiedener Stimmen “vom Feld”. Auf dem Feld werden die Toten der Kleinstadt begraben und blicken nun nach ihrem Dahinscheiden auf ihre Leben zurück. Was ist geblieben, nachdem alles zu Ende war? Gewöhnlich können wir unser Leben nur betrachten, während wir noch Teil davon sind. Wir können nicht einfach aus uns selbst und dem Alltag heraustreten. Seethalers Erzählmodus erlaubt die Außenperspektive – schließlich sind alle Berichtenden bereits tot und wissen darum. Zentrum ihrer aller Leben ist “Paulstadt”. Sie sind Gemüsehändler, unglückliche Ehepaare, Verlassene, korrumpierte Lokalpolitiker, ein wahnhafter Pfarrer, ein Postbote. Stück für Sück setzt Seethaler die Kleinstadt mittels ihrer Einwohner zusammen, die mal ernüchtert und mal befriedet auf ihr Dasein zurückblicken. Dabei geraten nicht alle Kapitel gleichermaßen plastisch, immer aber sind sie empathisch und charakteristisch geschrieben, gelegentlich ergänzen sie einander durch komplementäre Perspektiven zu ein- und derselben Situation. Man beginnt ja schon zu sterben, heißt es in einem Kapitel, sobald man zum ersten Mal an den Tod denkt. Was bleibt, wenn der Tod schlussendlich gekommen ist, spielt Das Feld in episodischer Form durch. Berührend, vielgestalt, klar, Seethaler.

Lange Zeit versuchte ich mir zu sagen, man stirbt nicht, man verlässt nur diese Welt. Der Tod ist nur ein Wort. Doch das stimmt nicht.

Robert Seethaler: Das Feld. Hanser Verlag. 240 Seiten. 22,00 €.

Tom Gauld veröffentlicht seine pointierten Cartoons regelmäßig im Guardian, dem New Yorker oder den New York Times. Kochen mit Kafka versammelt viele dieser Arbeiten, die man thematisch vielleicht unter dem Oberbegriff “Kultur- und Literaturbetrieb” zusammenfassen könnte. Mit einem herrlich trockenen Humor seziert Gauld Eitelkeiten und Absurditäten und lässt zeittypische Erscheinungen auf eine recht gewinnbringende Art mit Konventionen kollidieren. Er entwirft dystopische Verkehrsschilder, dekliniert Tötungsarten für moderne Krimischreiber*innen durch (vorn dabei: Überfahren mit selbstfahrendem Auto oder Erdrosseln mit einem Smartphone-Kabel) oder liefert Ideen für undramatische Geschichten, indem er sämtliche klassische Spannungsbögen in ihr Gegenteil verkehrt. Gauld ist dabei nie einfach kulturpessimistisch, vielmehr überspitzt er gekonnt und kombiniert eigentlich Unkombinierbares. Wie liest sich Krieg und Frieden in Form von Clickbait-Headlines? Kochen mit Kafka ist enorm witzig, klug und spielfreudig im Hinblick auf literarische und kulturelle Formalien. Große Empfehlung!

Tom Gauld: Kochen mit Kafka. Aus dem Englischen von Christoph Schuler. Edition Moderne. 160 Seiten. 19,00 €.

Manuel Möglich ist vor allem bekannt durch seine Reportagereihe Wild Germany. Im Augenblick arbeitet er mit dem Y-Kollektiv an Reportagen, die auch in abseitige Gesellschaftsbereiche führen – unlängst mit einer Reportage über Pädophilie. Auch Alles auf Anfang führt, Möglichs Credo gemäß, zu Menschen, die ein mindestens ungewöhnliches Leben führen. Ein recht bekannter Politiker konstatierte einst, wer Visionen habe, möge zum Arzt gehen. Möglichs Reportagen führen zu verschiedensten Menschen, die ihr Leben einer Utopie, einer Vision von besserem Leben verschrieben haben und an einem größeren Ziel ausrichten. Wie diese Ziele und Träume beschaffen sind, ist dabei ganz unterschiedlich: mal geht es um die Besiedelung des Mars, dann um das Stoppen des natürlichen Alterungsprozesses und damit um das ewige Leben, dann um polygame Beziehungsentwürfe oder ein transgenerationelles und multikulturelles Wohnprojekt. Ihnen allen ist gemein, dass sie etwas erproben wollen, das abseits der geltenden Konventionen  liegt. Manche Gruppierungen neigen dazu, sich restriktiv nach außen abzuschließen, andere bilden offene Bewegungen. Wie immer tritt Manuel Möglich in seinen Reportagen deutlich hervor, reflektiert, was er sieht und mit wem er spricht, legt offen, wie er sich dabei fühlt. Alles auf Anfang ist ein Querschnitt durch sämtliche Utopien und Ideen, wie unsere Welt einmal aussehen könnte. Und am Ende ist klar: Wir brauchen solche Ideen. Sei es, um sie als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zu nutzen oder sich an ihnen zu reiben; in jedem Fall bedeuten sie Bewegung.

Manuel Möglich: Alles auf Anfang. Rowohlt Verlag. 256 Seiten. 18,00 €.

Bjarte Breiteigs Roman wurde nach seinem Erscheinen vor allem als “brisant” gelabelt. Er verhandelt ein schwieriges Thema, zu dem es eigentlich keine zwei Meinungen gibt: Kindesmissbrauch. Breiteig ist in seiner Heimat Norwegen besonders bekannt für seine Kurzgeschichten. In Meine fünf Jahre als Vater erzählt der “Täter” selbst, wie es zu dem Übergriff auf die Tochter einer Freundin kam. Der Ich-Erzähler ist selbst Vater, angehender Autor, von Selbstzweifeln geplagt. Eines Tages steht die Polizei vor seiner Haustür, um ihn zu befragen. Zunächst ist er sich keiner Schuld bewusst, dann beginnt er, Spuren zu verwischen. Die tatsächliche Missbrauchssituation – und es bleibt über den Roman hinweg unklar, inwiefern auch die eigenen Kinder des Ich-Erzählers von Übergriffen betroffen sind – nimmt sehr wenig Raum ein. Es ist, schmerzhaft genug, eine Marginalie im Leben des Ich-Erzählers, der sich erschreckend wenig Gedanken um die Konsequenzen seines Handelns im Leben seines Opfers macht. Wie kann jemand so etwas tun? Wer so etwas tut, muss ein Monster sein! Breiteigs Roman, der einen unheimlichen Sog gerade um diese unfassbare Marginalie herum entfaltet, dekonstruiert die Geschichte vom Monster. Breiteigs Protagonist ist ein blasser, unauffälliger Durchschnittstyp, großteils unverdächtig liebevoll seinen Söhnen gegenüber, hin- und hergerissen zwischen zwei Frauen. Er erhält die Deutungshoheit über das Geschehen, breitet sein Leben aus. Das macht den Roman nicht eben leicht verdaulich. Das Monster, auf das wir warten, kommt nicht. Und auch das Opfer verblasst. Ein Roman, der Diskussionsstoff bietet und der manch einen auch zu verschrobenen Fragen verführt. In der NZZ fragte im letzten Jahr zum Beispiel Rezensent Peter Urban-Halle: “Er hat sich an der kleinen Selma nicht vergangen, aber sie, als sie schon halb schlief, unsittlich berührt. Doch wurde die Sache, fragt er sich und uns, durch den Prozess und die forschenden Fragen der Ermittler für Selma nicht womöglich noch schlimmer? Wurde der Missgriff erst dadurch zum Übergriff?” Nun:  Ob ein offensichtlicher Missbrauch nicht im Nachhinein erst durch entsprechende Nachfragen als solcher konstituiert wird, kann man mit Fug und Recht nicht als mutige Fragestellung bezeichnen.

Bjarte Breiteig: Meine fünf Jahre als Vater. Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel. luftschacht Verlag. 320 Seiten. 24,90 €.

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