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Clemens Setz – Bot

Ich sitze vor dem Monitor und “fahre” via Google Street View durch die menschenleeren Straßen der Kleinstadt Namie in der Präfektur Fukushima. Nach dem Tsunami und dem Reaktorunglück 2011 wurde die Stadt großteils evakuiert. Hier und da sieht man noch verwaiste Baumaschinen, Getränkeautomaten, am Ende einer baumgesäumten Straße einen angebundenen Hund. Sicher wird er abgeholt, ist er da nur “zwischengeparkt”, während ihm die Sonne auf den Pelz brennt. Das Google-Auto ist in einen schmalen, unbefestigten Weg eingebogen, eine Sackgasse, wie sich herausstellt. Dort steht ein Mann am Wegesrand, der skeptisch auf das Auto blickt. Auf jeder neuen Aufnahme ist er wieder zu sehen, immer ein Stückchen weiter vor dem Wagen. Je näher man ihm kommt, desto weiter scheint er weg zu sein. Warum ich das schreibe? Clemens Setz made me do it!

Bot. Gespräch ohne Autor ist zuallererst ein formales Experiment. Weil ein herkömmlicher Interviewband gescheitert ist, entscheiden sich Clemens Setz und Angelika Klammer für eine alternative Lösung. Statt tatsächlich auf die gestellten Fragen zu antworten, überlässt Clemens Setz der Interviewerin seine persönlichen Aufzeichnungen über Gesehenes, Gehörtes, Gedachtes, Erträumtes; aus ihnen sollen schließlich die Antworten extrahiert werden. Vor allem mittels Volltext- und Stichwortsuche wird das Dokument durchsucht, manchmal hat die Antwort tatsächlich einen Bezug zur Frage, manchmal nicht. Zwischendurch gibt es auch Schweigen. Laut Wikipedia handelt es sich bei einem Bot um ein Computerprogramm, das “weitgehend automatisch sich wiederholende Aufgaben abarbeitet, ohne dabei auf eine Interaktion mit einem menschlichen Benutzer angewiesen zu sein.” Es ist ein Interviewband geworden, der sich weitgehend ohne menschliche Interaktion und unter dem ordnenden Blick der künstlichen Intelligenz – gelegentlich auch des Zufalls – formiert. In einer Zeit, in der darüber debattiert wird, inwieweit Datenerfassung und Mustererkennung womöglich einmal dabei helfen, das perfekte Buch für alle zu schreiben, ist diese Art des Arrangements sicher eine witzige Fußnote. Manchmal entsteht durch das Zusammenspiel aus Frage und Antwort ein ganz neues, unerwartetes Muster, manchmal Komik.

Ich sehe zwei ernsthafte Leute vor dem Snoopy Museum in Tokyo.

Genug Komik aber liegt schon in den Antworten allein, die sich gelegentlich wie kleine Prosaminiaturen lesen, die sich längst von ihren Fragen entkoppelt haben. Clemens Setz ist ein passionierter Sammler kurioser Begebenheiten, Schilderungen und Ideen, viele davon sind in Bot versammelt. Es ist ein Potpourri geworden aus funkelnden Kleinigkeiten, ein Satz, eine Szene, mehr braucht es dafür oft gar nicht. Wenn auf youarelistening.to aus dem Polizeifunk der Satz dringt It seems like no one is responding, like, ever und dazu die obligatorische Ambientmusik im Hintergrund erklingt. Wenn von Schillers Skelett berichtet wird, das längst aus den Knochen rund 50 verschiedener Menschen besteht, weil Grabräuber die Knochen Schillers Stück für Stück entwendeten und durch andere ersetzten. Wenn ein Mann über seinen Bart stolpert und sich das Genick bricht. Wenn “Ich” der Name eines schädlichen Pilzes ist, der in Aquarien vorzukommen pflegt. Dann genügt das oft schon. Dann ist die Welt in ihrer Absurdität für einen Moment so schön, dass man sich fast mit ihr versöhnen könnte.

Die kürzeste Sci-Fi-Story der Welt war lange Zeit “Knock” von Frederic Brown: The last man on earth sat alone in his room. There was a knock on the door.
Ron Smith schaffte es, diese Geschichte um einen einzigen Buchstaben zu verkürzen und sie in eine ungleich grauenvollere zu verwandeln: The last man on earth sat alone in his room. There was a lock on the door.

Ich gebe zu, ich habe ein ausgeprägtes Faible für diese mäandernden Weltfragmente, die mal die Poesie in ganz unerwarteter Umgebung offenbar werden lassen, die mal zum Lachen komisch sind und dann wieder grausam. In den Textversatzstücken geht es oft um die Gleichzeitigkeit der Dinge oder das plötzliche Zerfließen von Zeit und Wirklichkeit. Wie verankern wir uns eigentlich in der Wirklichkeit? Setz unternimmt in Japan eine Reise zu einer Horde Schneeaffen, die dort in heißen Quellen baden. Bis er dort ankommt, ist er sich immer wieder unsicher, ob er die Reise vielleicht nur erfindet. Überall auf dem Weg Verweise auf Deutschland, Restaurants die St.Anton heißen, am anderen Ende der Welt. Eine Frau spricht Setz auf die Indigo-Kinder an, von denen er in seinem Roman geschrieben habe. Ihre Tochter sei ein solches Kind, mache alle anderen krank. Setz scheitert daran, die Frau von der Fiktion des Romans zu überzeugen. Das Buch und die ihm innewohnende Welt haben sich verselbstständigt und es heißt im Text: “Das alte Canetti-Zitat kam mir in den Sinn, dass ein guter Autor seinen Figuren erst dann in der Wirklichkeit begegnet, nachdem er sie erfunden hat.” Überhaupt steckt das Buch voller schöner Sätze wie: es kastelte alles so escherhaft endlos dahin. Oder Beobachtungen wie: Ein Affe laust einen anderen, der vor ihm hockt. Er macht dabei alle paar Sekunden eine rasche Umblättergeste im Fell des Gelausten, wie ein Leser in einem Buch. Ja, wahrscheinlich ist es so: Clemens Setz versöhnt mich kurzzeitig mit der Welt.

Glühwürmchenlarven an einer Höhlendecke locken Beute, indem sie gemeinsam so tun, als wären sie der Sternenhimmel.

Clemens J. Setz: Bot. Gespräch ohne Autor . Herausgegeben von Angelika Klammer. Suhrkamp Verlag. 166 Seiten. 20,00 €.

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