Im April geht es um das Erkenntnispotential von Bestsellern, eine Kulturgeschichte der Angst und das plötzliche Einbrechen einer Erkrankung, nach der nichts mehr ist wie es war.
Bestseller sind die Bücher, die sich am besten verkaufen. So weit, so simpel. Beststeller sind die Bücher, denen es gelingt, eine große Zahl von Menschen thematisch oder stilistisch anzusprechen. Da wird es schon interessanter. Muss das zwingend bedeuten, dass Bestseller ein um Ecken, Kanten und Tiefe gebrachtes Massenprodukt sind? Was viele Leser*innen anspricht, darf natürlich nicht zu experimentell und kapriziös sein, das steigert nur das Risiko, Menschen auf dem Weg zu verlieren. Die Losung aber, dass Beststeller dem kulturell Anspruchsvollen grundsätzlich nichts zu sagen hätten, geht nicht auf. Wenn man sie am Ende schon selbst nicht lesen will, kann man in ihnen wenigstens nach den Spuren kultureller und gesellschaftlicher Trends suchen, wie Jörg Magenau das in seinem kurzweilig geschriebenen Bestseller-Potpourri tut. Er begegnet dabei dem jüngeren Trend zur Selbstoptimierung genauso wie dem Bedürfnis nach “phantastischen Gegenwelten” angesichts von Waldsterben und Anti-AKW-Bewegung. Manch ein Buch erlebt seinen größten Erfolg erst Jahre nach Erscheinen. Weil die Zeit dafür reif ist, weil es einen Nerv trifft, der Jahre zuvor noch nicht bloßgelegt war. Warum ist gerade was erfolgreich? Und was sagt das über die Gesellschaft aus, in der es bejubelt wird? Wer Lust auf eine kleine deutsche Beststellergeschichte der letzten siebzig Jahre hat, ist mit Jörg Magenaus Analysen bestens bedient.
Jörg Magenau: Bestseller. Hoffmann & Campe. 288 Seiten. 22,00 €.
Von einem Tag auf den anderen verliert eine junge Frau ihr Augenlicht. Ihr wird nicht schwarz, ihr wird rot vor Augen. Es blutet in ihr Sichtfeld hinein; die Folge einer jahrelang unbehandelten Diabetes-Erkrankung. In der Fachsprache Retinopathie genannt, führen diese mikroskopisch kleinen Verletzungen am Ende häufig zur Erblindung. Von jetzt auf gleich muss die Protagonistin, die mit der Autorin u.a. den Namen teilt, lernen, andere Sinneseindrücke zur Orientierung zu nutzen. In ihrem Kopf entstehen anhand von Geräuschen differenzierte “Umgebungskarten”, mittels derer sie versucht, ihr Stadtviertel neu zu erkunden. Der plötzliche Verlust des Sehvermögens bringt aber auch andere Wahrnehmungsveränderungen hervor. Zwar kann Lina ihr Umfeld allenfalls noch schemenhaft erkennen, in sich selbst aber kann sie plötzlich umso klarer sehen. Lina Meruane schreibt nicht nur von dem plötzlichen Einbruch gewöhnlichen und selbstverständlichen Lebens, sie schreibt auch von Abhängigkeit, dem Wunsch nach Autonomie, der Blindheit anderer gegenüber ihren Bedürfnissen. Meruane schreibt einfühlsam, bildhaft und griffig. Es ist schwer, sich ihren Schilderungen zu entziehen, die das Sehen oder Nichtsehenwollen auf vielen verschiedenen Ebenen verhandelt. 2011 wurde Lina Meruane mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet. Es l0hnt sich, diese Autorin zu entdecken.
Lina Meruane: Rot vor Augen. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Arche Verlag. 208 Seiten. 20,00 €.
Scott Stossel, Redakteur bei The Atlantic, ist multiphobisch und ein menschliches Sammelbecken für Ängste und Neurosen aller Art. Schon in seiner Kindheit litt er unter zahlreichen krankhaften Ängsten, u.a. der Emetophobie, die bis ins Erwachsenenalter geblieben ist. An ihm und seiner Behandlungsgeschichte lässt sich exemplarisch auch die Entwicklung psychopharmazeutischer Ansätze zur Linderung von Ängsten nachvollziehen. Fast alle Medikamente, die jemals auf dem Markt waren und gegen Ängste eingesetzt wurden, hat Stossel probiert – mehr oder weniger erfolglos. Angst ist nicht einfach ein Selbsthilfebuch für Menschen mit Angst- und Panikstörungen, sondern eine kleine Kulturgeschichte der krankhaften Angst und der Erforschung ihrer Funktionsweise. Werden Angststörungen vererbt? Gibt es genetische Marker für Angst? Welche Rolle spielt das Umfeld, spielen sichere oder unsichere Bindungsangebote in der Kindheit für die Entwicklung von Angst? Wie kann man sie behandeln? Stossel wechselt immer wieder Schilderungen seines persönlichen Erlebens mit Entwicklungen der psychologischen Forschung ab. Sein Humor, seine Selbstironie und seine unbedingte Offenheit sind bewundernswert. Wer sich für Angst interessiert, im individuellen Sinne anhand einer spezifischen Krankengeschichte und im allgemeineren für die Entwicklung eines unspezifischen Befunds hin zu einer Diagnose, die heute neben Depression zu den am häufigsten gestellten gehört, muss Stossel lesen. Man versteht danach manches besser. Das allein heilt nicht, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Scott Stossel: Angst. Aus dem Englischen von Anne Emmert. dtv Verlag. 464 Seiten. 12,90 €.