Alle Artikel in: Rezensionen

Emma Glass – Peach

Es gibt Bücher, nach denen man sich selbst versehrt fühlt. Wie eine klaffende, pulsierende Wunde. Verstört. Mitgerissen von einem unaussprechlichen Unglück. Dieses ist so eins. Emma Glass hat mit Peach einen Debütroman geschrieben, der sämtliche Schmerzgrenzen überschreitet in seiner Kompromisslosigkeit. Ein surrealer Trip voller Gewalt und der klägliche Versuch, sich ihrer Spuren zu entledigen. Nichts für zarte Gemüter, nichts für schwache Nerven. Schon die ersten Sätze von Peach lassen erahnen, dass hier nicht konventionell und glatt erzählt wird. Viel eher liest sich der erste Absatz wie eine ins Stocken geratene Maschine, atemlos, ein schmerzerfülltes Stakkato voller Alliterationen und Assonanzen. Man strauchelt. Irgendetwas ist mit Peach geschehen. Sie ist ein junges Mädchen, ihre Knöchel sind aufgeschürft, sie spürt Schmerzen und Blut zwischen ihren Beinen, ihr Körper summt wie unter Strom. Irgendwie stolpert sie nach Hause, ihre Eltern bemerken nichts. Sie sind anzüglich, körperlich wie Teenager, die einander keine Sekunde unberührt lassen können. Gerade ist ein Baby geboren worden. Es heißt Baby. Und es ist süß, im wahrsten Sinne des Wortes. Mehrfach im Roman wird es wortwörtlich …

Claudia Rankine – Citizen

Schwarz zu sein, bedeutet auch in der Gegenwart noch beschämend häufig, aufgrund dieses eigentlich bedeutungslosen Merkmals ausgegrenzt, diskriminiert und erniedrigt zu werden. “Der Schwarze” ist, wie viele rassistische oder antisemitische Stereotypen, nicht viel mehr als eine Konstruktion, die über Jahrhunderte hinweg tradiert worden ist. Tradiert von denen, die die Macht dazu hatten. Tradiert von denen, die sich ihrer selbst so wenig sicher waren, dass sie andere Menschen abwerten mussten, um sich ihres eigenes Wertes zu versichern. Bis heute. “Othering” wird der Prozess genannt, der das Fremde in Abgrenzung zum Eigenen definiert und hervorhebt. Claudia Rankine beschreibt in ihrem 2014 im Original erschienenen lyrischen Essay (oder ihrer essayistischen Lyrik?) die zerstörerische Kraft von Mikroaggression und offenem Rassismus. Rassismus muss nicht intendiert sein, um rassistisch zu sein. Grenzüberschreitende, abwertende Kommunikation kann auch im Alltag stattfinden, zwischen Tür und Angel. Dort, wo man sie nicht erwartet. Dort, wo sie schlimmstenfalls vielleicht sogar positiv gemeint ist, aber implizit eine Herabwürdigung des Gegenübers darstellt. Claudia Rankine stammt ursprünglich aus Jamaika und ist schwarz. Es wäre schön, wenn das nicht von …

Mareike Nieberding – Ach, Papa

Mit dem Erwachsenwerden verändert sich in der Regel auch die Beziehung zu den eigenen Eltern. Sie sind nicht mehr Felsen in der Brandung, nicht mehr die leuchtenden Vorbilder, die sie einst waren. Viel eher transformiert der eigene Abnabelungsprozess die Eltern zu ganz normalen Menschen mit einer eigenen Geschichte. Sie haben plötzlich Stärken und Schwächen, sie werden fehlbar, manchmal auch zu einer Negativfolie, an der man sich abarbeitet. Mareike Nieberding war immer ein Papa-Kind, aber nach ihrem Auszug reißt die Kommunikation insbesondere zu ihrem Vater ab. Ein gemeinsamer Ausflug soll ausloten, ob und wie beide wieder zueinander finden können. Meine eigene Geschichte ist eine vaterlose. Wo bei Mareike Nieberding ein kräftiger Kerl für sie in die Bresche springt, den MitschülerInnen schon seiner körperlichen Präsenz wegen für respekteinflößend halten, ist bei mir eine Leerstelle, die nie gefüllt wurde. Schon vor diesem Hintergrund interessierte mich, wie andere Vater-Tochter-Beziehungen gelebt und gerettet werden, wenn sie zu zerbrechen drohen. Wahrscheinlich gehört es zu den gängigen Erfahrungen, von den Eltern wenig zu wissen. Obwohl man einen Haufen Zeit miteinander verbringt, weiß …

Mareike Fallwickl – Dunkelgrün, fast schwarz

Es ist ein bisschen wie in »Das zweite Gesicht« mit Elijah Wood und Macaulay Culkin. In einer asymmetrischen Jungenfreundschaft ist einer zurückhaltend und still, der andere findet Spaß an Gemeinheit und Macht. Raf und Motz sind sehr jung, als sie sich kennenlernen und fortan jede freie Minute miteinander verbringen. Raf ist ein Draufgänger und in späteren Jahren ein Weiberheld, Motz ist allenfalls sein Schatten. Als Johanna schließlich zu ihnen stößt, verändert das nicht nur die Beziehungskonstellation, es verändert Leben. Es gibt Bücher, die sind außerordentlich unbequem und in diesem körperlich spürbaren Mangel an Komfort liegt ihre größte Kraft. Dunkelgrün, fast schwarz erzählt von einer fatalen Beziehungsgeschichte und davon, was Menschen einander wissentlich und willentlich antun können. Als Raf und Motz (eigentlich Raffael und Moritz) sich kennenlernen, steht schnell fest, wer der Anführertyp von beiden ist. Raf schreckt scheinbar vor nichts zurück und hat bereits im Kindesalter Spaß daran, seine Macht  anderen gegenüber auszuspielen. Wie ein Detektor macht er die Schwachstellen seiner Mitmenschen ausfindig, um genüsslich in ihnen herumzubohren. Er liebt das Extrem und die Provokation, …

Alexander Pechmann – Sieben Lichter

Im Juni 1828 läuft in der irischen Hafenstadt Cove ein Schiff ein, auf dem sich Grausames abgespielt hat. Große Teile der Mannschaft sind brutal ermordet worden, der Kapitän flüchtig. Glaubt man den Schilderungen der Überlebenden, muss er für das Massaker verantwortlich sein, doch es bleiben Zweifel. Alexander Pechmann hat eine wahre Geschichte zur Grundlage für eine Schauergeschichte genommen, die sich liest, als stamme sie aus der Zeit klassischer Abenteuerromane. Als die Mary Russell in den Hafen von Cove einläuft, hat sich ein grausames Verbrechen auf ihr ereignet. Durch Zufall erfahren der prominente Theologe und Arktisforscher William Scoresby und dessen Schwager, der die »Watson«-Erzählerrolle in der Geschichte ausfüllt, von dem Unglück und beginnen, unabhängig von den offiziellen Ermittlungen des Coroners Nachforschungen anzustellen. Scoresbys Prominenz öffnet ihm viele Türen und so befragen beide die Überlebenden der Katastrophe, von ihr gleichermaßen angelockt und abgestoßen. Zunächst scheint alles klar zu sein. Kapitän William Stewart ist flüchtig, einiges, u.a. sein unberechenbares Verhalten, scheint dafür zu sprechen, dass er auf See verrückt geworden ist. Aber ist es tatsächlich so einfach? Stewart …

Franziska Seyboldt – Rattatatam, mein Herz

2016 schrieb Franziska Seyboldt in der taz über ihre Angststörung, seit 2017 schreibt sie dort in einer eigenen Kolumne (Psycho) über psychische Erkrankungen. Es waren ehrliche, nahbare und offene Artikel darüber, wie es ist, mit krankhafter Angst zu leben. Wie es ist, wenn sich vor lauter Panik das Blickfeld verengt, das Herz rast und im Inneren bloß noch Alarmglocken schrillen: alle Zeichen auf Flucht. Aus diesen Artikeln ist nun ein Buch entstanden, das nicht etwa Ratgeber sein will oder Selbsthilfebuch. Es enthält keine Meditationsübungen oder Listen zum Abhaken, nicht die eine Lösung. Dafür aber charmant selbstironische Schilderungen darüber, wie es sich anfühlt, wenn die Angst einem im Nacken sitzt. Für Nicht-Betroffene ist es vermutlich unvorstellbar, in einer alltäglichen Situation von Panik überwältigt zu werden. Binnen Sekunden rast der Puls ohne Geschwindigkeitslimit, im Hals schwillt ein Kloß zu unnatürlicher Größe, die Hände werden schwitzig, die Wahrnehmung verändert sich. Plötzlich ist die Welt eng und bedrohlich, alles zum Ersticken nah, zu laut und gleichzeitig hinter einer schlierigen Milchglasscheibe. Von außen ist an diesen Situationen nichts Besonderes zu …

Jürgen Bauer – Ein guter Mensch

Der südafrikanischen Metropole Kapstadt geht nach einer anhaltenden Dürre das Wasser aus. Sollte der Regen weiterhin ausbleiben, so der Spiegel, könnte die Stadt schon in diesem Jahr das Wasser abdrehen und rationieren. Eine Zukunft, in der extreme Klimabedingungen ebenso wie profitorientierte Unternehmen den Zugang zu Wasser erschweren und gigantische Fluchtbewegungen auslösen, ist keine, die man sich erst mühsam aus den Fingern saugen müsste. Wasser als Ressource ist ebenso wenig unendlich und selbstverständlich wie jede andere. Aber sie ist überlebenswichtig. Jürgen Bauers Roman Ein guter Mensch spielt zu einer Zeit, in der die prophezeiten Klimakatastrophen schließlich  Realität geworden sind. Seit Jahren hat es nicht geregnet. Manchmal wirbelt Asche durch die vor Hitze flirrende Luft und kündet von einem Brand, ausgelöst vielleicht durch eine unbedacht ins Unterholz geworfene Zigarette oder einen fanatischen Gegner der Regierungspolitik. Ein winziger Funke genügt, um einen Feuersturm zu entfachen, im knochentrockenen Gelände der Region ebenso wie in der aufgeriebenen, verzweifelten Bevölkerung. Wasser gibt es nur noch auf Zuteilung. Die Mengen sind kaum ausreichend. In gigantischen Flüchtlingscamps werden Menschen versorgt, die sich ein …

Joachim Meyerhoff – Die Zweisamkeit der Einzelgänger

Mit seiner autobiographischen Reihe Alle Toten fliegen hoch hat Joachim Meyerhoff in den letzten Jahren viele begeistert. Er schrieb über seinen Auslandsaufenthalt in Amerika, das Aufwachsen auf dem Gelände der Schleswiger Psychiatrie, persönliche Verluste, seine Schauspielausbildung und nun – dem Gesetz der linearen Biographie folgend – über seine Engagements an Provinzbühnen und erste Lieben. Das tut er, wie immer, gewinnend und ausgesprochen humorvoll. An der einen oder anderen Stelle aber gerät ihm seine Rückschau zu überdreht. Nach der Beendigung seiner Schauspielausbildung und dem schmerzlichen Tod der exaltierten, aber liebenswürdigen Großeltern hat es Meyerhoff an ein Bielefelder Theater verschlagen. Dort spielt er lustlos seine Rollen, es sinnkriselt. Soll das alles gewesen sein? In diesem Ensemble? An dieser Bühne? Er träumt von Flucht und Ausbruch, ist dafür aber am Ende zu pflichtbewusst. Er verflucht seine Geradlinigkeit, seine »Harmlosigkeit«, mit Anfang zwanzig verlangt es ihn nach einem Exzess, der nicht in Aussicht ist. Auf der Premierenfeier eines Shakespeare-Stücks lernt er Hanna kennen, die sein bis dato beschaulich-bräsiges Leben mit ihrer unkonventionellen Art in Bewegung bringt. Hanna ist intellektuell, …

Dirk Stermann – Der Junge bekommt das Gute zuletzt

Schmerz kann vielfältig sein: beißend, pochend, brennend, reißend, dumpf oder auch wohltuend. Der dreizehnjährige Claude erlebt in seinem noch jungen Dasein eine nahezu unaushaltbare Periode schmerzvoller Ereignisse, die ihn formen und verändern. Dirk Stermann hat ein Buch geschrieben, das gleichzeitig skurril, witzig und fast unerträglich traurig ist. Claude ist ein einsamer Dreizehnjähriger. Nicht auf die Art, auf die alle Dreizehnjährigen einsam sind. Bei Claude sitzt die Verlassenheit tiefer. Seine Eltern trennen sich und beschließen, diesem Beziehungsende auch eine räumliche Trennung folgen zu lassen. Claudes Vater und er wohnen nun auf der einen Seite, seine Mutter, ihr neuer Partner und sein Bruder Broni auf der anderen Seite derselben Wohnung. Der Kontakt untereinander ist streng untersagt. Man braucht Abstand voneinander, heißt es lapidar. Claude geht auf eine Eliteschule, in der er nach Kräften von seinen Mitschülern dafür gemobbt wird, dass sein Vater nicht Millionendeals abschließt, sondern bloß in volkstümlichen Bläsercombos in die Posaune pustet. Von seinem Vater ist kein Rückhalt zu erwarten, seine Mutter ist als Ethnologin regelmäßig am anderen Ende der Welt, um wahlweise sich selbst …

Lena Grossmüller – Reiseführer des Zufalls

Wenn es heute heißt, man solle jeden Tag ausschöpfen und jeden Tag genießen, verträgt sich das nur bedingt mit planlosen Dahintreiben oder genussvollem Nichtstun. Auch beim Reisen gibt es ungeschriebene Regeln: Touristenattraktionen besuchen oder eben gerade nicht. Die Zeit engmaschig verplanen, um die richtigen Instagramfotos schießen zu können. Allein reisen, weil das der Selbstfindung dient. Wenige Reisende überlassen sich absichtslos dem Zufall. Lena Grossmüller liefert für alle Zuffallsaspiranten einen Reiseführer und Essayband in Personalunion, ein Plädoyer für Entdeckungen, die man nicht beabsichtigt. Ich gebe zu – ich bin keine Fernreisende. Überhaupt reise ich selten. Da bietet es sich an, dass Lena Grossmüllers Reiseführer des Zufalls auch überall dort Anwendung finden kann, wo man eine Haustür hinter sich zuschlägt und unbekanntes Gebiet betritt. Das Credo lautet eben diesmal nicht: YOLO. Es lautet nicht: Nimm, was du kriegen kannst und pack auch noch was für später ein. Es lautet: Geh halt los, ohne etwas zu erwarten. Und damit sind sowohl Erwartungen an den Ort der Reise als auch an den Reisenden selbst gemeint. Nicht, dass man sich …