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Garrard Conley – Boy Erased

Man mag es kaum glauben, aber auch im Jahr 2018 gibt es in Deutschland noch immer Konversionstherapien. Selbsternannte Heiler*innen haben sich darauf spezialisiert, Homosexuelle von ihrer vermeintlichen Erkrankung zu befreien, obwohl längst klar ist, dass Homosexualität keine Krankheit darstellt. Schon 1990 wurde Homosexualität aus dem Diagnosekatalog der Weltgesundheitsorganisation gestrichen. Insbesondere im evangelikalen Umfeld lässt man sich davon wenig beeindrucken. Der Verein Wüstenstrom titelt beispielsweise auf seiner Webseite: “Heute gibt die Schwulenbewegung (und zunehmend die Gesellschaft als Echo) das Denkverbot: lebe es aus, einen anderen Weg ist nicht denkbar. Wer anders denkt wird mundtot gemacht.” Schwulsein gilt in diesen Kreisen vor allem als Ausdruck eines unbewältigten Konflikts oder eines schwelenden Kindheitstraumas. So erlebt es auch Garrard Conley bei der christlichen Ex-Gay Organisation Love in Action.

Homosexualität ist eine Strafe und eine Sünde, so der tiefe Glaube vieler christlicher Gemeinden. Conley wächst in den Südstaaten im Umfeld missionarischer Baptisten auf. Sein Vater ist Prediger und ein bekanntes Gesicht in der Kleinstadt, die Unfehlbarkeit der Bibel für die Gemeinde eine unverrückbare Tatsache. Eine wesentliche Säule der missionarischen Baptisten ist die Seelenrettung, die Anwerbung von Abtrünngigen und Verlorenen und ihre Einführung in den Schoß der Kirche. Wer sündigt und für seine Sünden nicht büßt, wird im Höllenfeuer enden. Obwohl Conley früh bemerkt, dass er sich eher zu Männern hingezogen fühlt, erzwingt der religiöse Dogmatismus seines Umfelds nahezu die Selbstverleugnung. Er fühlt sich schlecht, er fühlt sich schuldig, vor Gott, vor seinen Eltern, er fühlt sich schmutzig. Seine Versuche, mit einem Mädchen aus der Gemeinde eine Beziehung einzugehen, scheitern am Ende kläglich. Zwar sind die beiden zusammen und sich freundschaftlich nah, körperliche Annäherungen aber lässt Conley kaum zu. Er bricht den Kontakt ab und flieht aufs College. Nachdem er dort von einem Kommilitonen vergewaltigt und von ihm schließlich gegen seinen Willen vor seinen Eltern geoutet wird, stellt sein Vater ihm ein Ultimatum. Sollte er sich jemals entscheiden, seine Homosexualität offen zu leben, würde seine Familie ihn nicht mehr unterstützen. 2004 beginnt er die “Therapie”.

Als Verpiss-dich-Uniform trug ich ein Wirrwarr aus zerklüfteten Schwarz-Weiß-Linien aus der Ära von Radioheads Kid A, die nach den spitzen Gipfeln eines albtraumartigen Kilimandscharo aussahen, und sorgte dafür, dass sich meine Augen unter dem dunklen Vorsprung meiner Brauen nie vor Freude oder Überraschung öffneten. Wenn ich nicht so viel sagte, wenn die Leute mich nicht bemerkten, könnte ich vielleicht auch Gottes schweifendem Sauron-Auge entkommen.

Conleys Schilderungen der darauffolgenden Konversionstherapien sind so eindringlich wie erschütternd. Auf dem 12-Punkte-Programm der Anonymen Alkoholiker aufbauend, wird den Betroffenen alles geraubt, was sie als individuelle Persönlichkeit auszeichnet. Homosexualität, so der Konsens, sei eine Sucht, die sich in ihrer Funktionsweise nicht wesentlich von anderen Süchten unterscheide. Wer an den Programmen teilnehmen will, muss sich selbst radikal in Frage stellen, muss sich auslöschen. Conley gibt am Eingang nicht nur sein Handy und sein Notizbuch ab, er wird von anderen auch auf seine Körperhaltung und seine Einstellung hin kontrolliert. Die Teilnehmer*innen müssen ihre Familienstammbäume zurückverfolgen, um den vermeintlichen Ursprung ihrer “Störung” ausfindig zu machen, sie müssen schlechte Gedanken und sexuelle Fantasien beichten. Was sich als Hilfe geriert, ist viel mehr eine Umerziehungsanstalt, die Menschen mittels Gehirnwäsche und ständiger Befragungen im Innersten aushöhlt. Viele wissen nicht mehr, wer sie sind, wofür sie stehen oder was sie mögen. Während Conley “nur” zwei Wochen bei Love in Action verbringt, verlassen andere die Mühlen dieses Systems viele Jahre nicht. Für sie wird die ständige Observation der eigenen falschen Gedanken und des unreinen Innenlebens zum Automatismus, die Selbstgeißelung Alltag. Irgendwann wechseln sie die Seiten und “therapieren” selbst. Ein Teilnehmer spricht immer wieder über seine Suizidgedanken.

Boy Erased stellt die Funktionsweise von Konversationstherapien und ihre unmittelbare Wirkung auf Selbstwahrnehmung und Gedankenwelt en detail dar. Es ist kaum möglich, davon nicht erschüttert zu sein. Dabei gerät die Betrachtung des familiären Umgangs und des ganz eigenen Beitrags seiner Eltern manchmal etwas zu kurz. Zwar berichtet er immer wieder von der Verzweiflung seiner Eltern, ihrem Wunsch, seinen Testosteronspiegel testen zu lassen und der wachsenden Skepsis seiner Mutter angesichts seines Zustands während der “Therapie”, das Ende jedoch wird recht schnell abgehandelt.

Jahre später werde ich eines Nachmittags meinen Vater anrufen, um ihn wissen zu lassen, dass ich dieses Buch schreiben muss, dass es mir nicht besser gehen wird, wenn ich es nicht endlich schreibe, dass ich nicht wissen werde, wer ich bin, bis ich es geschrieben habe. “Ich will nur, dass du glücklich bist”, wird mein Vater sagen, die Stimme zugeschnürt von allem, was er ablehnt. “Wirklich.” Und ich werde ihm glauben.

Nichtsdestotrotz ist Boy Erased nicht nur der eindrucksvolle, berührende Weg Conleys zu sich selbst, es ist auch ein erschütterndes Dokument menschlicher Verblendung und Gewalt. Was die Teilnehmer*innen dieser Konversionstherapien vor dem Hintergrund “christlicher Nächstenliebe” durchleiden müssen, braucht eine breitere Kenntnisnahme der Öffentlichkeit. Gegenwärtig wird Conleys autobiographischer Bericht gerade verfilmt – ich bin gespannt! Bis er im Herbst in die Kinos kommt, ist jedenfalls noch genügend Zeit, dieses fantastische Buch zu lesen.


Hier eine Petition für das Verbot von Conversion Therapy. Unter @gayrodcon ist Garrard Conley auch auf Twitter zu finden.

Garrard Conley: Boy Erased. Aus dem Amerikanischen von André Hansen. Secession Verlag. 335 Seiten. 25,00 €.

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