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Longlist des Deutschen Buchpreises 2015

© Rainer Rüffer; Die Jury von links nach rechts: U. Sárkány, C. Kramatschek, M. Hinterhäuser, U. Kloke, R. Keussen, B. Schulte, C. Schmidt

Die Jury des Deutschen Buchpreises 2015 hat entschieden und wieder einmal zwanzig Romane herausgepickt, die die besten des Jahres sein könnten. Fraglos keine leichte Aufgabe, unter 167 Titeln 20 auszuwählen, die diese Ehrung vermeintlich verdienen und die die literarische Öffentlichkeit in den nächsten zwei Monaten mit Spekulationen, Kritik und Analysen beschäftigt halten können. Nichtsdestotrotz, alea acta est, hier sind sie nun, mit einem jeweils kurzen Kommentar:

9783462048025Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe

Gerade erst erschienen und schon der Sprung auf die Longlist. Ein lohnens – und lesenswerter Roman über die alte Baba Dunja, die nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl aller Warnungen zum Trotz in ihr ehemaliges Heimatdorf zurückkehrt. Eine Rezension findet ihr hier, außerdem habe ich kürzlich ein kleines Interview mit der Autorin veröffentlicht.

9783835316836lRalph Dutli – Die Liebenden von Mantua

Bereits 2013 stand Ralph Dutli mit ,Soutines letzte Fahrt‘ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. In seinem neuen Roman geht es um zwei aus der Jungsteinzeit stammende Skelette, die ineinander verschlungen in Mantua ausgegraben werden. Nach einigen Krisen ganz anderer Art verschwinden nicht nur “Romeo und Julia der Steinzeit”, sondern auch ein Schriftsteller, der sich auf deren Spuren begibt.

erpenbeckJenny Erpenbeck – Gegen, ging, gegangen

Bisher noch gar nicht erschienen (ET: 31.08.), ist Jenny Erpenbecks neuer Roman, in dem es offensichtlich um Vergänglichkeit geht und Verlust. Ein emeritierter Professor stellt diese existentiellen Fragen nach dem, was bleibt an die, die alles zurückgelassen haben: an Asylsuchende aus Afrika auf dem Berliner Oranienplatz. Das Flüchtlingsthema ist im Augenblick in aller Munde und Ohren; ein Thema, vor dem wir alle die Augen nicht verschließen können. Insofern erhoffe ich mir von diesem Roman eine interessante Auseinandersetzung des Allgemeinen im Besonderen.

42471Valerie Fritsch – Winters Garten

Sie hat schon abgeräumt in Klagenfurt, sowohl der Kelagpreis als auch der Publikumspreis gingen an Valerie Fritsch. ,Winters Garten’ ist ein düster-poetischer Roman vom Ende der Welt wie wir sie kennen, von der Vertreibung aus einem Paradies. Mit einer Sprache, die gelegentlich Schaudern und Gänsehaut verursacht, ist diese Geschichte ganz anders als man es sonst von literarischen Weltuntergangsszenarien gewöhnt ist. Eine Rezension findet ihr hier, außerdem war Valerie Fritsch Gast in meiner Interviewreihe ,Bitte übernehmen Sie’.

42493Heinz Helle – Eigentlich müssten wir tanzen

Auch Heinz Helles Roman ist noch nicht erschienen. (ET: 06.09.) Es scheint auch in diesem Roman, ähnlich wie bei Valerie Fritsch, um Verwüstung und Zerstörung zu gehen. Eine Gruppe junger Männer verbringt ein Wochenende auf einer Berghütte und muss bei ihrer Rückkehr feststellen, dass alle Ortschaften außerhalb dieser Berghütte zerstört sind. Irgendwie schlagen sie sich durch, durchleben ihre Erinnerung, versuchen am Leben zu bleiben und vorallendingen einen Grund dafür zu finden, weshalb das die richtige Entscheidung wäre.

919UGwEitdLGertraud Klemm – Aberland

Aus diesem Roman las Gertraud Klemm 2014 beim Ingeborg-Bachmann-Preis. Um Mütter geht es und Müttersorgen. Aber nicht nur darum, Gertraud Klemm erzählt von Rollenbildern, die zu durchbrechen für manchen fast unmöglich ist. Was wird heute von Müttern erwartet und warum? Und was passiert, wenn man diesen Erwartungen nicht mehr gerecht werden kann? Kollege Tilman Winterling von 54books jedenfalls ist überwältigt, wie er in seiner kurzen Zusammenfassung schreibt.

1330_01_Kopetzki_Risiko.inddSteffen Kopetzky – Risiko

Viele Leser konnte dieser Roman über eine Geheimoperation des Deutschen Reiches am Hindukusch bereits begeistern. Dort will man die Paschtunenstämme und den Emir zum Angriff auf Britisch Indien bewegen. Der Kaffeehaussitzer hat zu dieser intelligent konstruierten Mischung aus Historie und Fiktion bereits eine sehr einladende Rezension geschrieben.

Lappert_24905_MR.inddRolf Lappert – Über den Winter

Rolf Lapperts Roman liegt noch nicht in den Buchhandlungen (ET: 24.08.) Alles dreht sich in diesem gemächlich erzählten Familienroman um Lennard Salm, einen Künstler, der durch den frühen Tod seiner Schwester und die Krankheit seines Vaters beginnt, sich selbst und seine Familiengeschichte zu hinterfragen. Gelesen habe ich ihn schon, eine Meinung muss nachgereicht werden.

produkt-2338Inger-Maria Mahlke – Wie ihr wollt

Auch in diesem Roman wird etwas in der Geschichte gegraben. Im Mittelpunkt steht die kleinwüchsige Mary Grey, Großnichte Heinrichs VIII und Schwester der sogenannten “Neuntagekönigin” Jane Grey. Weil sie ohne hoheitliche Erlaubnis geheiratet hat, wird sie unter Arrest gestellt, wo sie in Briefen um Begnadigung bittet und in Tagebüchern ihr Leben für die Nachwelt festhält. Es ist ein ungewöhnlicher Roman, der auf sehr unmittelbare Weise royale Doppelmoral offenlegt. Er dokumentiert die Intrigen, Gemeinheiten und Zwänge des monarchischen Systems der Tudorzeit bravourös anhand eines Einzelschicksals. Rezensiert habe ich den Roman bereits hier.

u1_978-3-10-060805-5Ulrich Peltzer – Das bessere Leben

Es war beinahe zu erwarten, dass dieser Roman einen Platz auf der Longlist ergattert. Unlängst erschienen wird er als besonders zeitgemäß gelobt, geht es doch um unser kapitalistisches System, die Finanzwelt, dubiose Trasnaktionen und Angst wie Unruhen in der Bevölkerung. Was aber so ungemein interessant klingt, weil es am Puls der Zeit zu horchen scheint, ist stilistisch eine Herausforderung. Immer wieder abgebrochene Sätze und Gedanken, ständige Klammerergänzungen, viele viele Worte, die auf ihre Weise sicherlich die Komplexität spiegeln, der wir uns tagtäglich gegenübersehen. Dennoch: nach etwa 30 Seiten habe ich aufgegeben. Dieser Puls schlägt nicht auf meiner Wellenlänge.

51OyLGF3sqL._SY344_BO1,204,203,200_Peter Richter – 89/90

Das könnte er ja sein, der obligatorische DDR-Roman. Offensichtlich ist Peter Richters 89/90 aber, glaubt man vielen Kritikern, so erhellend und intelligent geschrieben, dass man die Wendezeit noch einmal mit ganz anderen Augen sieht. Gar die Ursprünge der Pegidabewegung sollen in Peter Richters Roman anklingen. Literarische Geschichte also, die nicht nur zurückweist auf das, was war, sondern bereits vorausblickt auf das, was ist.

Monique-Schwitter-Eins-im-Andern-Drosc-2-Monique Schwitter – Eins im anderen

Beim diesjährigen Bachmannpreis erhielt Monique Schwitter viel Lob für ihren Auszug aus diesem Roman. Hier kann der Text nochmal nachgelesen werden. Gerade erschienen, überschlägt sich das Feuilleton bereits. Es geht um Liebe und was aus ihr werden kann. Die Initialzündung: Eine Frau googelt ihre erste Liebe und erfährt, dass die sich bereits vor fünf Jahren aus dem achten Stock eines Hauses gestürzt hat. Wozu ist die Liebe fähig? Mit Monique Schwitter und Gertraud Klemm stehen zwei Autorinnen des kleinen Droschl-Verlags auf der Longlist!

42495Clemens Setz – Die Stunde zwischen Frau und Gitarre

Auch noch nicht erschienen. (ET: 07.09.) Wenigstens hinsichtlich seines Umfangs sticht Clemens Setz’ neuer Roman alle Konkurrenten aus: 1021 Seiten zählt er. Alles dreht sich um die seltsame und absonderliche Beziehung zwischen Alexander Dorm, der im Rollstuhl sitzend in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderungen lebt und Christopher Hollberg, dessen Leben er vor Jahren zerstört haben soll. Ungewöhnlich, ausufernd, poetisch – man darf gespannt sein auf diesen Roman, wenn man will. Ich werde meinerseits an einem Social Reading Projekt dazu teilnehmen und dann mutmaßlich mehr verraten können!

31GKQGol4lL._SX343_BO1,204,203,200_Anke Stelling – Bodentiefe Fenster

Genossenschaftliches Zusammenleben in einem Wohnprojekt in Berlin, Prenzlauer Berg. Es freut mich sehr für diesen Roman, dass er es auf die Longlist geschafft hat, denn er seziert ohne Mitgefühl Erartungshaltungen, Lebenskonzepte und Ideale. Im Mittelpunkt stehen die junge Mutter Sandra und ihre bohrenden Gedanken über Nachbarschaft, Elternschaft und Freundschaft. Hier könnt ihr meine Rezension lesen, Anke Stelling war außerdem Gast bei ,Bitte übernehmen Sie’. Außerdem habe ich gemeinsam mit Julia Schmitz im Litsaloon eindringlich über dieses Buch diskutiert.

51E9SaXnUgL._SX324_BO1,204,203,200_Ilja Trojanow – Macht und Widerstand

Fast erschienen (ET: 20.08.) Es geht um den Widerstandskämpfer Konstantin, der sich mit der bulgarischen Staatssicherheit anlegt und um Gegenspieler Metodi, selbst Offizier, Opportunist und Profiteur des Systems. Über ein halbes Jahrhundert sind die beiden in einen Kampf verstrickt, auch hier mischen sich Fiktion und Wahrheit.

Vertilb_Lucia Braun_061014.inddVladimir Vertlieb – Lucia Binar und die russische Seele

Vermutlich ein Überrasschungskandidat auf der Longlist. Im Mittelpunkt steht die 83-jährige Lucia Binar, die sehr empört darüber ist, dass die ,Große Mohrengasse’, in der sie lebt, aus Gründen der Korrektheit in ,Große Möhrengasse’ umbenannt werden soll. Ihr Essen wird nicht geliefert, der Telefondienst wurde ins Callcenter ausgelagert. All das klingt nach einem unterhaltsamen und erstaunlich humorvollen Roman.

51vO8BL-24L._SX300_BO1,204,203,200_Kai Weyand – Applaus für Bronikowski

Auch mit diesem Roman hat es ein sehr humorvoller Roman auf die Longlist geschafft. Humorvoll, aber nicht albern. Die Geschichte rundum Nies, der in einem Bestattungsunternehmen schließlich wertvolle Dinge über sein Leben lernt, ist liebenswert, aber nicht kitschig. Intelligent, aber nicht belehrend. Meine Rezension dazu könnt ihr hier nachlesen, außerdem war Kai Weyand Gast bei ,Bitte übernehmen Sie’.

Buchcover%20-%20Frank%20Witzel%20Die%20Erfindung%20der%20Roten%20Armee%20Fraktion%20durch%20einen%20manisch-depressiven%20Teenager%20im%20Sommer%201969Frank Witzel – Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969

Auf 800 Seiten legt Frank Witzel einen Höllenritt durch bundesrepublikanische Wirklichkeit hin, offenbar ziemlich lesenswert, wenn man der Rezension von Kollege Jochen Kienbaum glauben darf.

51HAXYJDAbL._SX334_BO1,204,203,200_Christine Wunnicke – Der Fuchs und Dr.Shimamura

Eine schöne Überraschung, dass dieser Roman aus dem Berenberg-Verlag auf der Longlist gelandet ist. Dr. Shimamura gab es tatsächlich und dieser Neurologe reist in Wunnickes Roman mit dem Auftrag nach Japan, die grassierende Fuchsbessenheit zu untersuchen. Im 19.Jahrhundert offenbar kein gänzlich unbekanntes “Krankheitsbild”! Verrückt, besonders, abgedreht – ich bin gespannt!

9783462047646Feridun Zaimoglu – Siebentürmeviertel

Frisch in den Buchläden erzählt der neue Roman Zaimoglus eine umgekehrte Flüchtlingsgeschichte. Diesmal flüchtet niemand nach Europa, stattdessen wird der junge Wolf nach dem Tod seiner Mutter 1939 nach Istanbul geschickt. Er wächst dort auf, besucht die Schule, schließt Freundschaften. Was vorübergehend sein sollte, wird seine Heimat. Eine sehr interessante Perspektive.

Erfreulich viele Longlistkandidaten stammen aus kleineren und unabhängigen Verlagen. In vielen Romanen geht es um Zerstörung, Verlust, Vertreibung und vermeintliche Selbstverständlichkeiten, die nicht mehr gelten. Das macht diese Liste vermutlich sehr zeitgemäß. Es sind Themen, die die Weltöffentlichkeit dieser Tage besonders bewegen, angesichts zahlloser Krisenherde und gewaltsamer Konflikte. Auch für historische Themen scheint die Jury besonders offen und empfänglich gewesen zu sein. Zuletzt nun also die Frage: Wie gefällt euch die Longlist? Regt euch ein Titel zum Lesen an? Habt ihr schon etwas gelesen?

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