Alle Artikel mit dem Schlagwort: suhrkamp verlag

Clemens Setz – Bot

Ich sitze vor dem Monitor und “fahre” via Google Street View durch die menschenleeren Straßen der Kleinstadt Namie in der Präfektur Fukushima. Nach dem Tsunami und dem Reaktorunglück 2011 wurde die Stadt großteils evakuiert. Hier und da sieht man noch verwaiste Baumaschinen, Getränkeautomaten, am Ende einer baumgesäumten Straße einen angebundenen Hund. Sicher wird er abgeholt, ist er da nur “zwischengeparkt”, während ihm die Sonne auf den Pelz brennt. Das Google-Auto ist in einen schmalen, unbefestigten Weg eingebogen, eine Sackgasse, wie sich herausstellt. Dort steht ein Mann am Wegesrand, der skeptisch auf das Auto blickt. Auf jeder neuen Aufnahme ist er wieder zu sehen, immer ein Stückchen weiter vor dem Wagen. Je näher man ihm kommt, desto weiter scheint er weg zu sein. Warum ich das schreibe? Clemens Setz made me do it! Bot. Gespräch ohne Autor ist zuallererst ein formales Experiment. Weil ein herkömmlicher Interviewband gescheitert ist, entscheiden sich Clemens Setz und Angelika Klammer für eine alternative Lösung. Statt tatsächlich auf die gestellten Fragen zu antworten, überlässt Clemens Setz der Interviewerin seine persönlichen Aufzeichnungen über …

Mareike Nieberding – Ach, Papa

Mit dem Erwachsenwerden verändert sich in der Regel auch die Beziehung zu den eigenen Eltern. Sie sind nicht mehr Felsen in der Brandung, nicht mehr die leuchtenden Vorbilder, die sie einst waren. Viel eher transformiert der eigene Abnabelungsprozess die Eltern zu ganz normalen Menschen mit einer eigenen Geschichte. Sie haben plötzlich Stärken und Schwächen, sie werden fehlbar, manchmal auch zu einer Negativfolie, an der man sich abarbeitet. Mareike Nieberding war immer ein Papa-Kind, aber nach ihrem Auszug reißt die Kommunikation insbesondere zu ihrem Vater ab. Ein gemeinsamer Ausflug soll ausloten, ob und wie beide wieder zueinander finden können. Meine eigene Geschichte ist eine vaterlose. Wo bei Mareike Nieberding ein kräftiger Kerl für sie in die Bresche springt, den MitschülerInnen schon seiner körperlichen Präsenz wegen für respekteinflößend halten, ist bei mir eine Leerstelle, die nie gefüllt wurde. Schon vor diesem Hintergrund interessierte mich, wie andere Vater-Tochter-Beziehungen gelebt und gerettet werden, wenn sie zu zerbrechen drohen. Wahrscheinlich gehört es zu den gängigen Erfahrungen, von den Eltern wenig zu wissen. Obwohl man einen Haufen Zeit miteinander verbringt, weiß …

Miriam Stein – Das Fürchten verlernen

Miriam Stein wächst als Adoptivkind aus Südkorea mit mehreren Geschwistern in einer deutschen Familie auf. Ihre Mutter leidet unter Angst und Panikattacken, die den Bewegungsradius aller auf ein Minimum beschränken. Der Vater ist viel unterwegs, die Kinder übernehmen unterdessen die Elternrolle. Alles, was die Mutter überfordern und Attacken auslösen könnte, wird vermieden. Das Leben schrumpft zusammen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Angst und Normalität. Miriam rebelliert und muss schließlich feststellen, dass auch in ihr die Angst ihrer Mutter Wurzeln geschlagen hat. Etwa 14 % der Europäer leiden unter Angststörungen. Darunter fallen nicht nur generalisierte Angst- und Panikstörungen ohne einen konkreten Angstauslöser, sondern auch spezifische Phobien, die sich auf spezielle Reize (Spinnen, Höhe, Flugreisen, Enge etc.) beziehen. Angststörungen sind nicht selten, sondern neben Depressionen vermutlich eine der am häufigsten auftretenden psychischen Krankheiten. Miriam Steins Mutter leidet unter Schwindelanfällen und Panikattacken, ohne dass es konkrete Auslöser gibt. Manchmal löst Zurückweisung das Zittern und Schwanken aus, manchmal auch allgemeiner Stress, die Unvertrautheit fremder Situationen oder Menschen, ein anderes Mal das Gefühl, eine Umgebung im Falle aufsteigender Angst …

David Vann – Aquarium

David Vann ist bekannt für seine abgründigen und unerbittlichen Familienromane. Aus der Keimzelle Familie und den wechselseitigen Abhängigkeiten, die sie mit sich bringt, entwickelt er seine schlagkräftigen Geschichten von Aufopferung und Macht. Diesem Schema bleibt er auch in Aquarium treu; einem Roman, der sich bis an die Grenzen des Erträglichen wagt. Ein Leben ist dem anderen stets fremd, heißt es im zweiten Drittel von Vanns Roman. Was weiß man schon vom Leiden und den Kämpfen eines anderen? Wie nah kann man ihm und seiner Sicht der Welt kommen? Franz Kafka schrieb in einem Brief an seinen Mitschüler Oskar Pollak: Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur Hölle. David …

Katharina Winkler im Interview!

© Stefan Klüter/Suhrkamp Verlag Mit ihrem fulminanten Debüt “Blauschmuck” hat Katharina Winkler einiges Aufsehen erregt. Der Roman erzählt die Geschichte der jungen Türkin Filiz, die sich nach Jahren der Demütigung und Gewalt schließlich aus einer destruktiven Ehe befreien kann. Ich habe Katharina Winkler um ein Interview gebeten, um mehr über ihre Arbeitsweise und die Hintergründe zu erfahren. Frau Winkler, „Blauschmuck“ basiert auf realen Begebenheiten. Was hat Sie dazu bewogen, diese tatsächlichen Erfahrungen literarisch zu verarbeiten? Filiz und ihre Geschichte haben mich tief berührt. Es war mir wichtig, dieser Frau Gehör zu verschaffen, ihr die Wertschätzung entgegenzubringen, die ihr lange nicht entgegengebracht wurde. Der Arbeitsprozess war ein Korrektiv der Realität: die Wiederherstellung von Würde. Hatten Sie Kontakt zu der „wahren“ Filiz und ihren Kindern? Wenn ja, wie empfinden sie dieses Buch? Möglicherweise als befreiend, weil es bedeutet, das Schweigen zu brechen und aus einer anderen Perspektive auf ihre Lebensgeschichte zu blicken? Ich hatte das Privileg, meiner Hauptfigur Filiz zu begegnen, sie jahrelang zu begleiten und ihre Emanzipation miterleben zu dürfen. Filiz wollte, dass das Buch geschrieben …

Schreiben mit Vargas Llosa

Wie schreibt man eigentlich einen Roman? Worauf kommt es an? Beim großen Traum vom Schriftstellerdasein gerät gelegentlich aus dem Fokus, dass für das Schreiben nicht nur überschäumende Fantasie, sondern auch gewisses Handwerkszeug vonnöten ist, um eine überzeugende Geschichte zu erzählen. In mehreren (fiktiven) Briefen an einen Nachwuchsliteraten gibt Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa Einblick in die Mechanismen des Schreibens. Man erzählt sich, Loriot hätte Evelyn Hamann einst für eine Szene dutzende Male in einen Hundehaufen treten lassen; immer wieder, bis es beiläufig genug aussah. Die hohe Kunst ist es, die Künstlichkeit als solche nicht mehr wahrzunehmen, sondern sich völlig auf die Illusion einlassen zu können, es handle sich um reale Szenen. Das gilt für einen Loriot-Sketch wie für ein gelungenes Buch gleichermaßen. In zwölf unterschiedlich langen Briefen an “einen jungen Schriftsteller” (Briefe an tatsächlich existierende oder erdachte Empfänger zur Entfaltung von persönlichen Gedanken oder eines bestimmten Programms sind nicht selten; man denke an Jean Anouilhs “Briefe an eine junge Dame” oder Rilkes “Briefe an einen jungen Dichter”) öffnet Mario Vargas Llosa gleichsam den literarischen Werkzeugkasten. Unmittelbar …

Katharina Winkler – Blauschmuck

Es ist ein Roman wie ein Schlag in die Magengrube. Unerbittlich, unnachgiebig, rücksichtslos. Im Mittelpunkt von Katharina Winklers Debütroman steht eine junge türkische Frau, die, früh verheiratet, schreckliche Demütigungen und Quälereien von ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter über sich ergehen lassen muss. Basierend auf einer wahren Begebenheit lässt dieses Buch atemlos zurück. Ist es richtig, in einer Zeit wie der jetzigen, ein Buch wie dieses zu veröffentlichen? Diese Frage wurde vielfach im Zusammenhang mit Blauschmuck gestellt. Die Atmosphäre ist angespannt, die Haltung gegenüber Muslimen vielerorts offen feindselig. Und nun kommt dieser Roman daher und legt den Finger direkt in die Wunde, direkt auf ein Problem, das im Hinblick auf den Islam immer wieder diskutiert wird: die Unterdrückung und Geringschätzung der Frau. Filiz wächst in einem türkischen Dorf auf, einigermaßen behütet zwar, doch auch ihr Vater erhebt in der Familie regelmäßig die Hand gegen die Mutter. Ungewöhnlich ist das im Dorf mitnichten, eher gleicht es einer Traiditon, die in Frage zu stellen bisher niemandem eingefallen ist. “Viele Frauen wechseln den Blauschmuck von Woche zu Woche, einige …

Clemens Setz im Interview!

© Hans Hochstöger/Focus/Suhrkamp Verlag Mit ,Die Stunde zwischen Frau und Gitarre‘ hat Clemens Setz einen der eindringlichsten und originellsten Romane dieses Jahres geschrieben. Im Interview spricht er über Lifehacks, lebenspraktische Tipps in Büchern, die heilsame Kraft des Unsinns und vergessene Autoren. Du sprichst sowohl in Interviews als auch durch Natalie im Roman immer wieder von sogenannten „Lifehacks“. Kleine poetische Abwandlungen des banalen Alltags, die dem Bekannten eine neue Dimension abgewinnen. Das Paare-Teilen, die temporäre Bewunderung und Verehrung einer völlig fremden Person ohne deren Wissen. Was sind deine liebsten Lifehacks? Und was bewirken sie? Ein Lifehack, den jeder machen kann, ist, in einem Buch, das man hasst, die meisten Sätze schwarz zu übermalen, bis eine neue Kombination von Wörtern übrig bleibt, mit der man leichter leben kann. Natalie Reinegger und ihre Wahrnehmung stehen im Mittelpunkt des Romans, grundieren ihn gleichermaßen. Du hast oft gesagt, sie sei nicht nur intelligenter, sondern auch insgesamt ein besserer Mensch als du. Welche Eigenschaften Natalies empfindest du als beneidenswert? Oder vielleicht besser: erstrebenswert. Ihre Geduld, ihr Einfallsreichtum, ihr Mut. Zu Beginn …

Clemens J. Setz – Die Stunde zwischen Frau und Gitarre

Es ist der vermutlich irrsinnigste Roman dieses Jahres: “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre”, der rund 1000-seitige Geniestreich des Grazer Autors Clemens J. Setz. Kürzlich erst mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet, präsentiert Setz ein Potpourri aus Neurose und Wahnwitz, das in beklemmender Detailgenauigkeit die Welt auf eine völlig andere Weise illustriert als wir sie kennen. Es ist kein Roman für viele, aber für die wenigen, die sich ihm hingeben können und wollen, ein intensives Erlebnis weit über die bloße Rezeption des Textes hinaus. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die einundzwanzigjährige Natalie Reinegger, die als Betreuerin ihre Arbeit in einem Wohnheim für geistig und körperlich Behinderte beginnt. Natalie ist keineswegs gewöhnlich, vielmehr bildet sie mit ihrer vielschichtigen Wahrnehmung die Basis des Romans. Sie ist Epileptikerin, Synästhetikerin – d.h. ihre reichhaltigen Sinneseindrücke weisen einem Gefühl schonmal Scharfkantigkeit zu oder einem bestimmten Wort eine spezielle Farbe – und hat einige Zeit in einer Sekte zugebracht. Sie lebt allein mit ihrer Katze, geht noch zu Beginn des Romans regelmäßig “streunen” (womit sie vergleichsweise wahllosen Oralsex mit unterschiedlichsten Männern versteht), mischt …

Heinz Helle – Eigentlich müssten wir tanzen

In Heinz Helles neuem Roman “Eigentlich müssten wir tanzen” ist die Welt, wie wir sie kennen, aus den Fugen geraten. Sie gleicht einem zerstörten Kriegsgebiet, wenn die Ursache der verheerenden Zerstörung auch im Unklaren bleibt. Für die fünf jungen Männer, die ihr Wochenende auf einer Berghütte verbringen, ist dieser Ausflug lebensrettend. Aber wie lebt es sich in einer Welt, die nur noch aus Zerstörung, Elend und Einsamkeit besteht? Was bleibt übrig von Mensch, Kultur und Zivilisation? Ein eindringliches, lakonisches und trotz aller Ödnis sehr intensives Buch. Kürzlich ließ ein Wetterdienst verlauten, in naher Zukunft könnte ein Meteorit die Erde auslöschen. Die Ankündigung des nahenden Weltuntergangs hat Tradition, auch wenn sie überwiegend friedfertig belächelt wird. Die Welt ist selbstverständlich, solange wir nicht vom Gegenteil überzeugt werden. So wie Drygalski, Fürst, Gruber, Golde und der Ich-Erzähler in Heinz Helles “Eigentlich müssten wir tanzen”. Eigentlich wollten sie auch nur ein Wochenende auf einer verschneiten Berghütte verbringen und retten sich damit unwissentlich, ja zufällig ihr Leben. Als sie die Hütte verlassen, um den Nachhauseweg anzutreten, sehen sie das Dorf …