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Bettina Wilpert – Nichts, was uns passiert

Mitten ins Herz der #MeToo-Debatte” ziele Bettina Wilperts Debütroman Nichts, was uns passiert, lobt Ursula März in der ZEIT. Es ist die Geschichte einer Vergewaltigung, einer Verurteilung, einer Aneignung. Es ist eine Geschichte gebrochener Perspektiven und Uneindeutigkeiten. Es ist die Geschichte von etwas, das immer nur den anderen passiert.

Anna und Jonas lernen sich während der Weltmeisterschaft 2014 kennen. Sie machen sich beide nicht viel aus Fußball, diskutieren leidenschaftlich über Politik und Literatur. Anna arbeitet in einer Bar, Jonas schreibt seine Doktorarbeit. Die beiden landen im Bett, unverbindlich. Beiden steht nicht der Sinn nach einer engeren Beziehung. Einige Wochen später treffen sie sich auf der Party eines Freundes wieder. Sie trinken zu viel und schließlich passiert, was danach aus dutzenden Perspektiven untersucht und bewertet wird. Jonas vergewaltigt Anna. Sie ist betrunken, bringt ein “Nein” zustande. Er ist betrunken und geht darüber hinweg, für ihn stellt sich die Situation gänzlich anders dar. Um diesen Dreh- und Angelpunkt herum konzipiert Bettina Wilpert ihre Rekonstruktion der Geschehnisse, wobei die Erzählstimme die Position eines neutralen Dritten einnimmt, der die Beteiligten befragt. Keiner erhält Deutungshoheit über die Geschichte, viel mehr springt die Erzählung immer wieder von einer Schilderung zur anderen.

Anna musste es erzählen. Sie hatte mit niemandem darüber gesprochen, vielleicht würde es ihr danach besser gehen. Doch sie konnte nicht. Sie konnte das Wort nicht in ihrem Mund formen. Wenn sie es aussprach, würde es Wirklichkeit werden, würde sie sich damit auseinandersetzen müssen.

Dabei wird auch auf beschämende Weise deutlich, wie Opfer sexueller Gewalt sofort nach der Tat einer Rechtfertigungspflicht unterliegen. Als Anna sich entscheidet, Jonas anzuzeigen, muss sie erniedrigende Befragungen über sich ergehen lassen; etwa darüber, wie sich ihr Sexualleben normalerweise gestalte. Spekulationen darüber, wie sie sich gekleidet und welche Signale sie gegeben haben könnte, sind Gegenstand der Auseinandersetzung. Vergewaltigung gehört zu den Verbrechen, die umgehend Rechtfertigung seitens des oder der Betroffenen erzwingen. Wer sich mit Vorwürfen wie diesen an die Öffentlichkeit begibt – und sei es nur die Öffentlichkeit einer Polizeidirektion -, setzt sich der Gefahr aus, nicht mehr eine Straftat zu Protokoll zu geben, sondern selbst wie ein Straftäter befragt zu werden. (Dazu empfehlenswert die Reportage “Vergewaltigt. Wir zeigen an.”) In Wilperts Roman vergeht nicht viel Zeit und die Geschichte beginnt an der Universität durchzusickern und Unbeteiligte auf den Plan zu rufen, die sie sich aneignen. Plötzlich geht es nicht mehr um die individuelle Erfahrung zweier Menschen, sondern um die große Sache und den Kampf der anderen, für den auch Anna instrumentalisiert werden soll. Sie soll über ihr Erleben sprechen, um anderen Mut zu machen. Sie soll sichtbar sein und laut. Plötzlich wissen andere viel besser, was zu tun ist oder wie Anna sich zu fühlen hat. Sie verliert ein zweites Mal die Kontrolle, indem man ihr die Opferrolle auf den Leib schreibt.

Später machte sich Hannes Vorwürfe, für das, was er dann sagte: Er kann sich einfach nicht vorstellen, dass Jonas so etwas macht. Er ist so ein lieber Kerl. Er ist reflektiert, kein Macho, nicht einmal Sexist.

Die Stärke in Wilperts Roman liegt auch darin, dass nicht alles, was gut gemeint ist, auch gute Wirkung entfaltet. Der Roman thematisiert die Zerrissenheit von Freund*innen beider, die sich weder vorstellen können, dass Anna lügt noch dass Jonas ein Vergewaltiger ist. Was vielleicht auch darin begründet liegt, wie wir uns Vergewaltiger vorstellen. Als unangenehm aufdringliche, grenzenlose Machotypen, die unausgesetzt sexistische Sprüche klopfen. Als zwielichtige Gestalten, die auf den ersten Blick schon so wirken als ob sie zu so etwas fähig wären. Nichts, was uns passiert wirft Fragen auf, ohne eindeutige Zuschreibungen zu bemühen und einfache Antworten zu haben. Wie verständigen wir uns über Grenzen? Welchen Rollenbildern unterliegen wir in dieser Verständigung? Weshalb sehen sich viele Frauen immer wieder neu Anfeindungen ausgesetzt, Vergewaltigungen zu erfinden, obwohl bisher kaum stichhaltig erwiesen sein dürfte, dass dieses Verbrechen besonders oft vorgeschoben und instrumentalisiert wird? Instrumentalisieren womöglich auch die, die vorgeben, Helfer*innen zu sein? Auch Jonas wird, im Zuge der allgemeinen Aufregung vornehmlich Unbeteiligter, in die Rolle des Monsters gedrängt, ausgeschlossen, vom Gemeinschaftsleben suspendiert. Für die einen ist er zweifellos Täter, für die anderen zweifellos Opfer. Eine Erfahrung, die auch Anna machen muss. Für die einen ist sie zweifellos Opfer, für die anderen zweifellos “Schlampe”. Plötzlich geht es nicht mehr darum, was tatsächlich geschehen ist, sondern nur noch darum, was andere darin sehen und wie sie das Geschehen interpretieren wollen.

Nichts, was uns passiert ist nüchtern geschrieben, beinahe protokollarisch und entfaltet dennoch, vielleicht gerade deswegen, eine besondere Wucht. Über etwas emotional so Aufgeladenes gerade nicht hochemotional zu schreiben, ist eine Herausforderung, die Bettina Wilpert gemeistert hat. Und vielleicht müssen wir uns nach Lektüre dieses Romans endlich eingestehen, dass das, was angeblich immer nur den anderen passiert, durch den bösen Fremden und in schlecht beleuchteten Unterführungen, allgegenwärtig ist. Viel näher jedenfalls als wir denken.

Bettina Wilpert: Nichts, was uns passiert. Verbrecher Verlag. 168 Seiten. 19,00 €.

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