In jedem Leben gibt es irgendwann Begebenheiten von solcher Außerordentlichkeit, dass mit ihnen und in ihrer Folge eine neue Zeitrechnung beginnt. Manchmal sind es, von außen betrachtet, vernachlässigenswerte Kleinigkeiten, manchmal einschneidende Schicksalsschläge, nach denen nichts mehr ist wie es einmal war. Ulrike Schäfer spürt in ihren zarten Erzählungen diesen Bruchstellen nach.
Eine Frau trifft im Café auf einen skurillen älteren Mann, mit dem sie eine Freundschaft verbinden wird, die sie erst nach dessen Verschwinden ermessen kann. Er ist gewitzt, etwas schräg und trägt stets eine Packung Pralinen bei sich, die er ungeachtet seiner Leibesfülle und Zuckerkrankheit geradezu gierig verzehrt. Eine andere Frau sucht ihren verschollenen Großvater, den ihre Großmutter deutlich mehr geliebt haben soll als ihren aktuellen Gatten. Ein Vater repariert nach dem Tod seiner Frau ein zerstörtes Klassenzimmer – und damit zum ersten Mal wieder ein Stück von sich selbst. Eine ältere Frau scheitert am Verkauf ihres Hauses, bei dem ihr niemand zur Seite stehen kann. Ihre fortschreitende Demenz macht es ihr unmöglich, alle Formalitäten zu organisieren, ihre schleichend aber beständig ausgreifende Verwirrung treibt sie schließlich in die Wälder hinter ihrem Haus.
Charly war merkwürdig stimmig in sich. Er sagte alltägliche Dinge und streute, wie Perlen, hier und da kleine Absurditäten ein. Er war sanftmütig und penetrant, eine diskrete Klette. Ein raffinierter Verrückter.
Was es auch ist, was ihre Protagonisten umtreibt – ob Tod, Krankheit, Verlust, Erinnerungen, Neuanfänge -, Ulrike Schäfer weiß es stets mit einer so einfühlsamen Prägnanz zu beschreiben, dass die kurzen Momentaufnahmen unheimlich lebendig daherkommen. Sie stellt die unterschiedlichsten Protagonisten ins Licht ihrer Erzählungen und schafft damit einen Querschnitt durch sämtliche Lebenslagen. Ihnen allen gemein ist nur, dass sich etwas im alltäglichen Ablauf der Dinge verschoben hat. Wie zwei Kontinentalplatten, deren Bewegungen ein Erdbeben auslösen und Zerstörung zurücklassen. Trotz so ernster Rahmenbedingungen ist keine Erzählung unangenehm schwermütig, in einigen flackert Hoffnung auf oder wenigstens die Möglichkeit, dass es anders kommen könnte als es den Anschein erweckt. Ulrike Schäfer buchstabiert nicht alles aus, sie lässt bewusst offene Enden und lose Stränge, mit denen der Leser selbst experimentieren kann. Statt ermüdender Klarheit also deutlich häufiger so etwas wie anregende Ungewissheit – niemand kann genau wissen, was kommt auf der Basis dessen, was war. Besonderen Ausdruck findet diese Offenheit in einer Erzählung von zwei Geschwistern, die ihren Vater an eine Krankheit verlieren. Nach der Operation verkündet ihre Mutter leidlich optimistisch: “Es kann immer noch gut gehen.” Auch wenn genau dieser Satz für beide der schlagkräftigste Beweis für den Ernst der Situation ist, benutzen sie die Verkürzung “EKINGG” lange über die Krankheit ihres Vaters hinaus. Oft in Zusammenhang mit einem Zitat des Vaters, der ihnen stets etwas sagte, das sie erst deutlich später verstanden: “Alles kehrt wieder, aber die Dinge wiederholen sich nicht.”
Frau Holler goss wie immer ihre Beete, dann kippte sie. Es ging so schnell, dass er die Bewegung kaum wahrnahm. Wie ein Embryo lag sie in fiedrigem Gesträuch, den Gartenschlauch noch in der Hand.
“Nachts, weit von hier” ist Ulrike Schäfers erster Erzählband, zuvor schrieb sie bereits für die Theaterbühne. In ihren Erzählungen manifestiert sich eine außergewöhnlich rege Beobachtungsgabe und ein Gefühl für die feinen Zwischentöne, Harmonien und Dissonanzen. Es macht Freude, sich einige Stunden in die Schicksale zu versenken, die in ihrer Vielfalt wohl für jeden von uns eine Situation oder ein Erlebnis bereithalten, in dem wir uns spiegeln können. Ein tolles und lohnenswertes Erzähldebüt abseits aller Bestsellerlisten!
Ulrike Schäfer: Nachts, weit von hier
Klöpfer & Meyer,
184 Seiten
20,00 €
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