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Roger Clarke – Naturgeschichte der Gespenster

Wenn es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als wir gegenwärtig nachzuweisen oder in Worte zu fassen in der Lage sind, liefert Roger Clarke uns umfassendes und glänzend recherchiertes Material, auf dessen Basis wir Überlegungen anstellen können. Quer durch die Jahrhunderte untersucht er Geistererscheinungen, Spukphänomene und Legenden und setzt sie kenntnisreich in einen größeren historischen Kontext. Es ist im besten Sinne drin, was draufsteht: eine nahezu erschöpfend genaue Beweisaufnahme des Übernatürlichen.

In diesem Buch geht es also nicht um die Frage, ob es Geister gibt oder nicht, sondern darum, was wir sehen, wenn wir einen Geist sehen, und um die Geschichte, die wir uns davon erzählen.

Mit diesen Worten schließt Roger Clarke sein Vorwort, in dem er Rechenschaft über sein persönliches Interesse am Geisterhaften ablegt. Von Kindesbeinen an wohnte er immer wieder in Häusern, denen übernatürliche Bewohner nachgesagt wurden. Er verschlang Bücher über die Geisterjagd und Geistererscheinungen, von denen es schon damals zahllose gab. Er nahm Kontakt zu Geisterjägern auf und besichtigte viele einschlägig bekannte Spukorte – so z.B. den Tower of London, Knighton Gorges auf der Isle of Wight, Sawston Hall in Cambridgeshire und Bettiscombe House in Dorset. Ihn interessierten, wie er im Laufe seiner Recherchen feststellt, die Menschen, die die Geister sahen, immer weit mehr als die Geister selbst, weshalb ihm niemals daran gelegen ist, irgendeine Überzeugungsarbeit in die eine oder andere Richtung zu leisten. In größtmöglicher Präzision trägt er zusammen, was es über Geistererscheinungen zu wissen gibt. So erfahren wir  von acht verschiedenen Geisterkategorien Peter Underwoods, zu denen u.a. sogenannte Elementargeister, Poltergeister oder unbelebte Spukobjekte gehören. Wir erlangen Kenntnis von den verschiedensten Geisterjägern, insbesondere von Harry Price, dem bekanntesten Geisterjäger des 20. Jahrhunderts. Er gründete ein Institut zur Erforschung parapsychologischer Phänomene und forschte an den verschiedensten heimgesuchten Orten mit oftmals beeindruckend fortschrittlichem technischem Gerät. (1932 reiste Price anlässlich des 100. Todestages Goethes in den Harz, um dort ein schwarzmagisches Ritual durchzuführen, in dessen Verlauf sich eine Ziege in einen jungen Mann verwandeln sollte) Price war nicht unumstritten, vorallendingen war er sich aber stets der Manipulierbarkeit parapsychologischer Untersuchungen bewusst: bisweilen manipulierte er gar ganz absichtsvoll selbst eine Untersuchung, indem er der Öffentlichkeit Informationen vorenthielt. So geschehen zum Beispiel bei seiner Forschung rundum die Borley Rectory Ende der 30er-Jahre.

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Der Geisterglaube war immer vulgär – so vulgär wie die Krankheit, der er oberflächlich ähnelt. Was man von Geistern denkt und wie man sie wahrnimmt – ja, wie man diese Wahrnehmung verarbeitet -, hing früher davon ab, woher man kam, welchen Beruf man ausübte und welchen Beruf die Eltern hatten. In gewisser Hinsicht ist das noch heute so.

Roger Clarke begnügt sich nicht mit bloßen Darstellungen des Übernatürlichen – dem Trommler von Tedworth, die Fox-Schwestern oder dem Poltergeist von Enfield -, er ergänzt die jeweils unerhörte Begebenheit um erhellende Milieustudien. Er zeichnet nach, unter welchen sozialen oder auch familiären Bedingungen die Geistererscheinungen auftraten, wie sie sich im Einzelnen äußerten, welche Folgen sie hatten, in welchem Spannungsverhältnis sie zu herrschenden religiösen Überzeugungen standen und ob sie nach heutigem Kenntnisstand als geklärt gelten können. Das löst die Geschichten aus ihrer teils folkloristischen Verankerung und setzt sie in ein größeres Bild, das die Gesellschaft als Ganzes ebenso einbezieht wie individuelle Motivationen. Nicht selten stellte sich so ein Poltergeist im Nachhinein als Dienstbotenstreich heraus, als ganz menschliche Inszenierung, die aus persönlichen oder gar finanziellen Motiven zur Darstellung kam. Gestern wie heute hat sich Spuk stets als massenwirksam und auch monetär rentabel erwiesen. Sei es nun in Gestalt öffentlich abgehaltener Séancen, Geisterjagden oder journalistischer Hintergrundberichte: das Unerklärliche und Jenseitige gilt seit jeher als anziehend und abstoßend gleichermaßen. Zwischen diesen Polen kommt jene Spannung zustande, die das Interesse an Parapsychologie und Spiritismus stets lebendig gehalten hat. Das im Übrigen nicht nur in der einfachen Bevölkerung, sondern auch in gelehrteren Kreisen, wie z.B. Arthur Conan Doyles großes Interesse am Übernatürlichen belegt.

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Das vielleicht wichtigste Vermächtnis des medizinischen Interesses an paranormalen Phänomenen ist ein Gerät, das heute noch verwendet wird. Der Elektroenzephalograf (EEG-Gerät) wurde ursprünglich für die Entdeckung von telepathischen Ereignissen entwickelt.

Wohl kaum einen Aspekt des Geisterhaften lässt Clarke unberücksichtigt. Medizinische, psychologische, religiöse und technische Entwicklungen haben den Geisterglauben immer beeinflusst, ihn aufblühen oder in den Hintergrund treten lassen. Auch die Art der Geistererscheinungen selbst waren ständigem Wandel unterworfen; von Bekannten und verstorbenen Verwandten hin zu völlig Fremden oder gänzlich Körperlosen, die allenfalls als flirrende Lichterscheinungen oder fliegendes Geschirr auf sich aufmerksam machten. So wie die Phänotypen des Spuks variierten auch die Erklärungsversuche: von reuigen Sündern, die, erschrocken angesichts des Höllenfeuers auf die Erde zurückkehrten hin zu Ektoplasma und Elektrizität, von elektromagnetischen Feldern bis zu Radio – und Mikrowellen – vermeintliche Ursachen des unerklärlichen Spuks gab es viele. Man muss kein langjähriges oder leidenschaftliches Interesse am Spuk mitbringen, um dieses Grundlagenwerk des Gespenstischen auf überaus vielen Ebenen zugleich als aufschlussreich und im besten Sinne erhellend zu empfinden. Über den Haupttext hinaus bietet Clarke unzählige Querverweise und Hintergrundinformationen, mit deren Hilfe man sich weiter vertiefen kann; obwohl das angesichts des ohnehin schon großen Umfangs von Clarkes Recherchen kaum notwendig erscheinen will. Roger Clarke schreibt kenntnisreich, pointiert, mitreißend und meisterhaft, bisweilen fast zu detailversessen, was fraglos der tiefen Leidenschaft für den Gegenstand seiner Untersuchungen geschuldet ist. Kulturwissenschaftlich und geschichtlich gesehen ist es, summa summarum, ein ganz wundervolles Werk über einen Glauben, der auch von der präzisesten Wissenschaft nicht auszurotten ist. Zuletzt sei noch ein kurzes Wort über die Gestaltung verloren, über das gänzlich in Leinen gebundene Kunstwerk mit geprägtem Titel und schwarzem Buchschnitt. Fast dafür allein lohnt es sich!

Eine vollständige Geisterjagd-Ausrüstung kostet 109 Dollar (…)

"buchhandel.de/Roger Clarke: Naturgeschichte der Gespenster
Aus dem Englischen von Hainer Kober
Matthes & Seitz,
333 Seiten
38,00 €

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