Durch den Urwald schlägt man sich am besten querfeldein. Man verlässt ausgetretene Pfade, wehrt sich gegen so manche exotisch-florale Erscheinung, versucht sich zu orientieren, während man selbst innerhalb dieser üppigen Natur immer unbedeutender wird. Etwas Ähnliches geschieht vielleicht auch in Roman Ehrlichs neuem Erzählband. Schlaglichtartig sammelt er in ,Urwaldgäste’ ein Potpourri aus Menschen, die verloren und verlassen sind.
Roman Ehrlichs Prosa ist nicht glatt und von jedem erdenklichen Stolperstein bereinigt, über den man als Leser unversehens stolpern und darüber ins Taumeln geraten kann. Das galt für ,Das kalte Jahr‘ und das gilt in noch viel stärkerem Maße für die jüngst erschienenen Erzählungen. Sie sind alles andere als gefällig, man reibt sich an ihnen auf. In ,Urwaldgäste’ werden wir Zeuge von lebensverändernden Maßnahmen mehr oder weniger erfolgreicher Art. Sei es durch eine Band, die nach einem sehr durchschnittlichen Auftritt all die Romantik verfliegen sieht, die mit so einem Banddasein verbunden ist. Oder durch Arne Heym, den “Fleurateur”, Hersteller und Arrangeuer von Kunstblumen, der eine Agentur anheuert, sein Leben aufzumischen. Ein Leben, das ihm eingefroren und starr erscheint. Vielleicht auch determiniert, ähnlich wie bei Pflanzen, deren genetisches Programm ihnen eine ganz besondere Form der Intelligenz verleiht.
Er hat Angst und glaubt, in ihm sei keine Sehnsucht mehr übrig.
Roman Ehrlichs Protagonisten erleben Verluste und eine Entfremdung von sich selbst. So wie der Angestellte von Grinello, einem Unternehmen, das Filtersysteme vertreibt. Zwar arbeitet er, doch er tut das ohne Überzeugung, mechanisch, gleichgültig – bis er mit einem potentiellen Kunden am Telefon ein interessantes Gespräch beginnt, fernab von Verkaufsquoten und Produktpolitik. Diese Geschichte ist es auch, in der Roman Ehrlich direkt zu Beginn ein dichtes Geflecht von Binnenerzählungen etabliert, dessen Machart sich durch die meisten der Geschichten im Erzählband fortsetzt. Nicht immer ist da ein roter Faden, ein einziger Protagonist, eine fortlaufende und logische Geschichte, manchmal wird es magisch und unerklärlich. Oft genug sind es nur Momentaufnahmen, in denen eine Veränderung beginnt, zufällig, gewollt, gleichgültig zur Kenntnis genommen. Es sind Momente, in denen Menschen Kontrolle verlieren und zurückerobern in einem undurchdringlichen Geflecht an Möglichkeiten.
Heym wünscht sich, seine Gedanken auf einen Schienenstrang zu stellen, Kontakt zur Oberleitung aufzunehmen und für eine Weile auf vorgegebener Route geradeaus zu fahren.
,Urwaldgäste‘ ist eine experimentelle Erzählsammlung, die in ihrer handwerklichen Freiheit, ihren teils relativ losen Assoziationsketten und kurzen Episoden eine Herausforderung ist. So widerspenstig hat man bisher selten Erzählungen gelesen, wie wild wuchernde Urwaldpflanzen winden sich alle Erzählungen um die Fragen nach Verlust, Selbstbestimmung, Arbeit und Entfremdung. Es sind Erzählungen mit wenig Identifikationspotential, obwohl sie doch Fragen und Themen berühren, die für eine breite Öffentlichkeit präsent, für unsere heutige Gesellschaft bezeichnend sind. Fraglos sehr kunstfertig, doch stellenweise für meinen Geschmack wesentlich zu fragmentarisch und kleinteilig, sind Roman Ehrlichs Erzählungen etwas für neugierige und experimentierfreudige Leser, die sehen wollen, wie ein Text (in ihnen) arbeitet und stetig in Bewegung bleibt.
Roman Ehrlich: Urwaldgäste, DuMont Verlag, 272 Seiten, 9783832197537, 19,99 €
Im Urwald unterwegs waren auch dasgraueSofa, buzzaldrins Bücher und Bücherrezension.
Außerdem könnt ihr auf intellectures ein Interview mit dem Autor lesen.
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