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Lucy Fricke – Takeshis Haut

Frida ist Geräuschemacherin. Sie fügt vornehmlich Filmen eine Geräuschkulisse zu, wenn sie misslungen oder im Falle eines jungen Mannes, der sie überraschend besucht, gar nicht vorhanden ist. Vor dem Hintergrund eines beruflichen Auftrags erzählt Lucy Fricke in ihrem Roman von Sprachlosigkeit, einem Land in Schockstarre und der Atomkatastrophe in Fukushima.

Es ist früh am Morgen als Redakteure und Kameramänner des Kinderkanals in Fridas Wohnung einfallen, um sie zu ihrem Beruf zu befragen. Was sie genau mache, woher sie denn all ihre Geräusche und die nötigen Utensilien dafür nehme, ob sie nicht einer Gruppe von Kindern nicht mal etwas vorführen möge, was besonders viel Krach macht. Tatsächlich birgt der Beruf des Geräuschemachers auch außerhalb von Lucy Frickes Roman noch einige Geheimnisse, die mündlich von den Älteren an die Jüngeren weitergegeben werden. Bestimmte Elemente der Klangerzeugung werden im Verborgenen gehütet, nicht jeder Regen, jedes Trippeln und Knacken ist das, wonach es klingt. Meistens jedoch muss Frida Filme nach – nicht völlig neu vertonen. Bis Jonas auftaucht, der mit einem eigenen Science-Fiction Film zum Thema Apokalypse aus Japan zurückkehrt – gänzlich ohne Ton.

Die absolute Stille war eine Idee. Er war die eigene Anwesenheit, die sie zerstörte.

Er bittet Frida um Hilfe, Geld spiele keine Rolle, und schickt sie auf seine Kosten nach Japan. Schließlich kann Frida nur vertonen, was sie einmal gehört hat – und wer weiß schon, wie Kyoto klingt, wenn man nicht dort gewesen ist? Als sie mit ihren Aufnahmen beginnt, stellt sie fest, dass hochfrequente Töne ihre Arbeit unbrauchbar machen; doch als sie andere danach fragt, behaupten die, nichts davon zu hören. Es sei das Land, das sie höre, nichts anderes. Als sie von Jonas zu einem alten Mann gelotst wird, der ihr Gerät untersuchen soll, lernt sie Takeshi kennen. Jung, faszinierend, nicht auf den ersten Blick attraktiv und doch beginnen die beiden eine Affäre, die Frida und ihr Leben erschüttert und verändert. Wie ein Erdbeben.

Manche Orte bewohnst du nicht, sie bewohnen dich. Haben sich mit Fundament in dich hineingesetzt. Sie werden bleiben. Du bist eine wirre Architektur in weiter Landschaft, hier und da eine Aussicht.

Kurz darauf bebt tatsächlich die Erde, es ist der 11. März 2011. Ein gigantischer Tsunami rollt über den Norden Japans hinweg, reißt Häuser und Menschen mit sich, zerstört zwei Reaktoren im Atomkraftwerk Fukushima fast vollständig. Es ist die größte atomare Katastrophe seit Tschernobyl. Frida sitzt völlig verstört in Kyoto, in dem sie lediglich schwächere Nachbeben zu spüren bekommt und ist außerstande, das Geschehen zu begreifen. Alles ist in Ordnung, sagt sie immer wieder, wenn ihr Freund Robert sie anruft. Alles ist in Ordnung. Das Land und Frida selbst erfasst eine Sprachlosigkeit, in der es keine Worte, eine Stille, für die es keine Geräusche gibt, um das Geschehene darzustellen. Und auch der Feind ist unsichtbar, geruchlos, still.

(…), die Erinnerung sammelte Anfänge, vom Ende wollte sie nichts wissen.

Lucy Fricke erzählt in ihrem Debütroman gekonnt von inneren und äußeren Erschütterungen, die ein Leben für immer verändern. Fricke, die seit 2010 jährlich die HAM.LIT veranstaltet, führt aber nicht nur in diese unterschiedlichen Krisengebiete, sondern präsentiert mit einer sympathischen Prise Humor einen ganz anderen Blick auf die Welt der Geräusche und des Tons. Dinge, die wir sonst niemals bewusst wahrnehmen, rücken mit der Lektüre plötzlich in den Fokus, ein interessanter Nebeneffekt der Besinnung und Kontemplation. ,Takeshis Haut’ ist ein besonderes Buch, nicht zuletzt auch, weil Fukushima als konkretes Ereignis hier literarisch verarbeitet wird. Ein ungewöhnlicher, intensiver Roman, der die Lektüre lohnt.

Lucy Fricke: Takeshis Haut, Rowohlt Verlag, 189 Seiten, 9783498020163, 18,95 €

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