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Saša Stanišić – Vor dem Fest

Saša Stanišić ist ein aus Bosnien-Herzegowina stammender Autor. 1992 flüchtete er mit seinen Eltern vor der Belagerung seiner Heimatstadt durch serbische Truppen Süddeutschland. Neben seinem Studium veröffentlichte er bereits Essays und Erzählungen in zahlreichen Literaturzeitschriften (wie Krachkultur und EDIT), 2004 begann er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig zu studieren, im Jahr darauf war er beim Ingeborg-Bachmann-Preis vertreten. 2006 folgte sein vielfach ausgezeichnetes und hochgelobtes Debüt ,Wie der Soldat das Grammophon repariert‘, das bereits als Hörspiel und Bühnenstück adaptiert wurde. ,Vor dem Fest‘ ist Saša Stanišićs zweiter Roman, erscheint im Luchterhand Verlag und erhielt gerade den Preis der Leipziger Buchmesse.

,Letzte Ausfahrt Uckermark‘ titelte erst kürzlich noch die ZEIT, als Maxim Biller seinen Unmut über die deutsche Gegenwartsliteratur und ihren eklatanten, ja, ach so spürbaren Mangel migrantischer Stimmen kundtat. Ja, überhaupt verstünde Stanišić ja gar nichts von der ostdeutschen Provinz und sei nun, nach seinem grandiosen Debüt, vom Literaturbetrieb quasi konformgebügelt worden. Uckermark. Unsinn. Uckermarkunsinn. Nun würden eigentlich schon die ersten Sätze von ,Vor dem Fest‘ Herrn Biller Lügen strafen. Dieser Roman ist nicht nur inhaltlich ein Fest, sondern auch sprachlich, ein Genuss, ein modernes Märchen über Herkunft und Vergangenheit, über Geschichte und ihre Präsenz in der Gegenwart. Dafür bedarf es keiner wasserdichten und profunden Kenntnisse über die Uckermark. Die könnte auch woanders sein.

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Der Roman spielt in der Nacht vor dem Fest, von dem die Dorfgemeinschaft eigentlich auch gar nicht genau weiß, warum sie es feiert. Fürstenfelde, so heißt das kleine uckermärkische Nest, fiebert dem nächsten Tag entgegen, jeder auf seine Weise. Frau Kranz steht mit ihrer Staffelei in einem der beiden Seen und versucht,im peitschenden Regen ein neues Gemälde zu erdenken, das am nächsten Tag festlich versteigert werden kann. Herr Schramm versucht, Selbstmord zu begehen und fährt letztendlich mit einer alten, ausgedienten Landmaschine Zigaretten holen. Er ist, wie Stanišić schreibt, ein Mann ohne Haltung, aber mit Haltungsschaden. Frau Schwermuth indessen, Betreuerin des dörflichen “Heimatmuseums”, macht ihrem Namen alle Ehre. Ihr Sohn Johann findet Worte.

Meine Mu wiegt doppelt so viel wie mein Pa. Sie wiegt 130 Kilo. Im Frühling kommen 30 Kilo schwere Gedanken dazu (Sorgen, Ängste, Scham, generelle Lustlosigkeit). Dann legt sich meine 160-Kilo-Mu in die Narzissen im Garten, weil im Liegen die dunklen Wolken circa hundertsechzig Zentimeter weiter weg sind. Ihre Augen sind zu, wir sollen sie in Ruhe lassen. Da kann man nichts machen, als Ehemann, als Sohn, als Narzisse nicht. Wir kriegen 160-Kilo-Mu nicht auf die Beine, wenn sie das nicht will, wir kriegen sie nicht froh, wenn sie das nicht sein kann.

Im Dorfkörper regen sich allerlei Geschichten, die das Dorf seit Jahrhunderten geformt haben, Sagen, Märchen von furchtbaren Bränden, grausigen Krankheiten, Riesen und einem unsichtbaren Kesselflicker. Um die Geschehnisse herum streunt eine Fähe auf der Suche nach Nahrung für ihre Welpen, vorsichtig, immer auf der Hut. Ihr Einbruch in den Hühnerstall findet ein jähes Ende.

Im Kiecker, dem alten Wald, meißelt der Specht die Millisekunden unserer Sterblichkeit ab.

Saša Stanišić ist ein meisterhafter, ein fantastischer Erzähler, der schon mit den ersten Worten seines Romans eine Tür aufstößt, die zu durchschreiten man einfach nicht verweigern kann. Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot, heißt es da. Und wer dächte bei Fährmännern nicht an uralte Geschichten und Legenden? Saša Stanišićs Dorf lebt, als Ganzes und in seinen einzelnen Facetten. Manchmal sieht man Fürstenfelde wie ein menschliches und historisches Kaleidoskop durch die schmalen Dorfstraßen wandeln, dann zerfällt es wieder in seine Bewohner.

In seinem eigenen Haushalt, denkt Herr Schramm, finden sich im Schnitt mehr Enttäuschungen über ihn selbst als über die Welt.

,Vor dem Fest’ erinnert in seiner Verschlungenheit und fast magischen Art, Zeiten miteinander zu verbinden, an die Kraft des Vergangenen. So vermag ein altes verfallenes Haus doch in vielen Fällen eine wesentlich stärkere Faszination auszuüben als ein makelloser Neubau, eben weil das Verfallene, das Verlebte in sich mehr Geschichte trägt als das jüngst in die Welt Geworfene. So auch Fürstenfelde, das durch seine langjährige Stadtgeschichte beinahe zu vibrieren scheint in dieser Nacht. Angesichts des Fests, aber auch angesichts seiner Ursprünge.

Wenn bei uns irgendwo ein Fenster eingeschlagen wird und offen steht, dann haben wir mehr Angst vor dem, was entkommen sein könnte, als vor dem, der vielleicht eingestiegen ist.

Es ist ein Lesefest. Ein Sprachfest. Ein Dorffest. Ein Fest der Gegenwart und der Vergangenheit. Mit einem feinsinnigen Humor, pointierten Sätzen und griffigen Wendungen schafft Saša Stanišić eine unnachahmliche Atmosphäre, die selbst nach dem Zuklappen der Buchdeckel noch anhält. So ein Roman ist das. Der einen ganz und gar verzaubert und irgendwie verändert zurücklässt. So ein Roman. Angeblich verspreche man sich in Fürstenfelde einen Anstieg des Tourismus. Tatsächlich möchte man mal hinfahren und bei Ulli ein Bier trinken, Trost suchen, ,weil nach Mitternacht jeder Trost verdient.’ Ein absolutes Lese-Muss dieses Frühjahr!

Müsste es einen Soundtrack für dieses Buch geben – es gäbe einen. Man denke sich einfach alternativ ,Gespräche der Fähen’.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=9bTeeYbDgO4]

Eine Rezension findet ihr ebenfalls im Bücherwurmloch und bei buzzaldrins Bücher.

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