Alle Artikel mit dem Schlagwort: luchterhand literaturverlag

Kathrin Wessling – Morgen ist es vorbei

Liebe kann so schön sein; erfüllend, neu, prickelnd und wunderbar. Muss sie aber nicht. Sie kann auch ein ziemlich destruktives Arschloch sein. Sie kann mutieren – in Besitzanspruch, in Macht und Übergriffigkeit. Wir können oft nicht mit ihr, aber noch viel öfter nicht ohne sie. Kathrin Weßling erzählt in ihren Geschichten vom Pathos des Verlassenen und Verschmähten, von Selbstzerstörung und von dem Versuch, etwas halten zu wollen, das längst verloren ist. Wie oft hab ich dann mein krankes Herz mit Alkohol betäubt Liebeskummer ist so ein Wort, ich weiß nicht mehr wie man’s schreibt (Rainald Grebe – Mann ohne Gefühle) Wie man Liebeskummer schreibt, ist vielleicht auch zweitrangig, wenn man so einfühlsam über ihn schreiben kann wie Kathrin Weßling. Die Verlassenen, Verlorenen und Verschmähten taumeln allein durch beleuchtete Großstadtstraßen, sie tanzen sich auf gefährlich erhitzten Tanzflächen ihre geschundenen Seelen aus dem Leib, sie trinken bis zur Besinnungslosigkeit. Sie schreien, sie kotzen, sie toben, sie wollen alles zerstören und zerstören doch nur sich selbst dabei. Fraglos muss man einen gewissen Hang zum Pathos und zur großen …

Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt

Die vermutlich schwerste Bürde eines Schriftstellers ist die erzwungene Sprachlosigkeit, das von außen oktroyierte Schweigen. Zwar ist Michail Bulgakow heute einer der bekanntesten russischen Satiriker und Dramatiker, doch zu Lebzeiten hatte er immer wieder mit der Zensur seiner Stücke und Kurzgeschichten zu kämpfen. Seine Tagebucheinträge und Briefe zwischen 1921 und 1940 geben Einblick in ein fremdbestimmtes Schaffen unter sowjetischer Regierung. Es war einer seiner größten Wünsche, einmal mit seiner Frau nach Europa zu reisen. Er sollte ihm bis zu seinem Tod 1940 von der Regierung verwehrt bleiben, die immer befürchten musste, eine Ausreise zöge, im Falle einer Rückkehr, möglicherweise auch das Einschleppen konterrevolutionären Gedankenguts nach sich. Michail Bulgakow, geboren 1891, studiert, bevor er sich engültig für die Literatur entscheidet, Medizin und arbeitet einige Zeit als Landarzt. Womöglich in Anbetracht des Leids, mit dem er sich konfrontiert sieht, beginnt er selbst, seine eigenen Medikamente einzunehmen, er wird morphiumsüchtig. Auf der Basis dieser Erfahrungen entstanden nicht nur seine Arztgeschichten, sondern auch die humorig-morbide Miniserie ,A Young Doctor’s Notebook‘ mit Daniel Radcliffe und Jon Hamm. Das aber nur …

Kristine Bilkau – Die Glücklichen

Isabell und Georg sind junge Eltern. Sie Cellistin und er Journalist. Beide werden immer wieder von Versagensängsten und Leistungsdruck geplagt, die nach und nach ihr Leben zum Erliegen bringen. Wohin führt der Anspruch, alles im Leben richtig, besser machen zu wollen als die Eltern? Und wie nützlich kann das Scheitern sein? Kristine Bilkau erzählt in ihrem Debütroman eine hochaktuelle Geschichte zweier Menschen, deren größte Angst das Verlieren und Scheitern ist. Es beginnt damit, dass Isabells Bogenhand zittert. Schon beim Stimmen ihres Instruments fühlt sie sich von ihren Orchesterkollegen beobachtet, kritisch gemustert. Was, wenn sie sich verspielt, ihren Einsatz verpasst? Was, wenn die anderen ihr Zittern, ihre Unzulänglichkeit bemerken und ein harsches Urteil fällen? Nicht nur über sie als Musikerin, sondern über sie als Mensch. Sie liest über Musiker und Musikerinnen, die nach einem psychischen Zusammenbruch nie mehr auf die Bühne zurückkehren konnten. Was denken wohl die anderen Mütter über sie, wenn sie ihren kleinen Sohn aus der Kita abholt? Auch Georg als Journalist sieht sich dem Umbruch in seiner Branche vergleichsweise hilflos gegenüber, ständig stehen …

George Saunders – Zehnter Dezember

Ein Hauen und Stechen um die gesellschaftlichen Logenplätze, in George Saunders neuer Kurzgeschichtensammlung ,Zehnter Dezember’ geht es nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich zur Sache. Lassen Sie mich durch, ich habe Ellbogen. George Saunders gilt in den USA als großer Satiriker. Ins Groteske, manchmal Wahnsinnige gesteigerte Geschichten erzählen von einer Welt, in der wir morgen leben, von einer Zukunft, die womöglich schon Gegenwart geworden ist – ohne, dass es von vielen bemerkt worden wäre. Gleichförmige Konsumkultur, Wettbewerbskämpfe auf allen erdenklichen Positionen, eine durchökonomisierte Gesellschaft ohne Mitgefühl – in George Saunders Kurzgeschichten, für die er bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, ist diese Welt bereits Realität. Darüber kann man lachen, schmunzeln bestenfalls – muss man aber nicht. Denn in dieser haltlosen Übersteigerung bildet sich nur literarisch eine Gesellschaft ab, die das Streben nach Mehr zur sinnstiftenden Prämisse ihres Lebens erkoren hat. Ein schlaksiger Junge, der eine Entführung beobachtet und im letzten Moment entscheidet, gegen die Anweisungen des Vaters das heimische Grundstück zu verlassen, um dem Entführer den Kopf einzuschlagen. Ein Familienvater, der seiner Tochter im Konkurrenzkampf mit anderen …

Saša Stanišić – Vor dem Fest

Saša Stanišić ist ein aus Bosnien-Herzegowina stammender Autor. 1992 flüchtete er mit seinen Eltern vor der Belagerung seiner Heimatstadt durch serbische Truppen Süddeutschland. Neben seinem Studium veröffentlichte er bereits Essays und Erzählungen in zahlreichen Literaturzeitschriften (wie Krachkultur und EDIT), 2004 begann er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig zu studieren, im Jahr darauf war er beim Ingeborg-Bachmann-Preis vertreten. 2006 folgte sein vielfach ausgezeichnetes und hochgelobtes Debüt ,Wie der Soldat das Grammophon repariert‘, das bereits als Hörspiel und Bühnenstück adaptiert wurde. ,Vor dem Fest‘ ist Saša Stanišićs zweiter Roman, erscheint im Luchterhand Verlag und erhielt gerade den Preis der Leipziger Buchmesse. ,Letzte Ausfahrt Uckermark‘ titelte erst kürzlich noch die ZEIT, als Maxim Biller seinen Unmut über die deutsche Gegenwartsliteratur und ihren eklatanten, ja, ach so spürbaren Mangel migrantischer Stimmen kundtat. Ja, überhaupt verstünde Stanišić ja gar nichts von der ostdeutschen Provinz und sei nun, nach seinem grandiosen Debüt, vom Literaturbetrieb quasi konformgebügelt worden. Uckermark. Unsinn. Uckermarkunsinn. Nun würden eigentlich schon die ersten Sätze von ,Vor dem Fest‘ Herrn Biller Lügen strafen. Dieser Roman ist nicht nur inhaltlich ein Fest, …

Ulrike Draesner – Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Ulrike Draesner ist eine deutsche Autorin. In München aufgewachsen studierte sie Rechtswissenschaften, Anglistik, Germanistik und Philosophie an verschiedenen Universitäten im In – und Ausland. Seit 1994 lebt sie als freie Schriftstellerin in Berlin und veröffentlicht außer Prosatexten und Essays auch Lyrik. Sie wirkt gemeinsam mit bildenden Künstlern auch an intermedialen Projekten mit. ,Sieben Sprünge vom Rand der Welt‘, ein Roman über Vertreibung und das Schwelen von Erinnerung unter der Oberfläche, erscheint im Luchterhand Verlag. Vater, glücklicher Raum, schlurft durchs Institut. Hose, Lederjacke, Seminar. Seine alte Gartenjacke. Wie er aussieht, ist ihm egal. Der Rundrücken, die Hosenträger, die Karl-Valentin-Beine. Verrückt war er schon immer, auf seine Weise: exakt, kühl, kalkuliert. Eustachius Grolman, Verhaltensforscher und zweiundachtzigdreiviertel Jahre, ist ein renommierter Wissenschaftler. Seit Jahrzehnten forscht er mit Affen, vorzugsweise Schimpansen und Bonobos. Wo andere versuchen, den Menschen im Affen zu entdecken, versucht er, den Affen im Menschen zu entlarven. Seine Lebensgeschichte gleicht der vieler anderer Kriegskinder. Der Vater kämpft an der Front und Eustachius muss mit seiner Mutter und dem älteren, behinderten Bruder Emil im Winter 1945 aus …