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Björn Bicker – Was wir erben

Bicker

Björn Bicker ist ein deutscher Autor. Er studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Allgemeine Rhetorik in Tübingen und Wien und arbeitete als Dramaturgieassistent und Dramaturg am Wiener Burgtheater und den Münchner Kammerspielen. Er schreibt Theaterstücke, Essays und Hörspiele. Bereits 2009 veröffentlichte er ,Illegal – wir sind viele. Wir sind da‘, eine Schrift über das Leben illegaler Einwanderer in Deutschland. Was wir erben, ebenso wie Illegal, ist im im Kunstmann Verlag erschienen.

Wir alle stellen uns früher oder später die Frage, woher wir kommen. Inwiefern unsere Vergangenheit und die Menschen, denen wir begegnet sind, uns beeinflusst haben. Wir fragen uns, was wir erben, von unseren Eltern, unseren Großeltern, dem Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind und das für uns lange Zeit den wichtigsten Bezugspunkt unseres Lebens dargestellt hat. Was aber ist, wenn wir diesen Bezugspunkt um jeden Preis vergessen, unsere Vergangenheit am liebsten von uns entkoppeln würden? Theaterschauspielerin Elisabeth führt ein, von außen betrachtet, geordnetes Leben. Mit Holger, einem erfolgreichen Chirurgen, verbringt sie Tage und Nächte, ohne viel über ihre Kindheit und Jugend nachzudenken. Das ändert sich schlagartig, als eines Tages das Telefon klingelt und ein Mann am anderen Ende der Leitung mit amerikanischem Akzent offenbart, dass er vermutlich ihr Bruder ist.

Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass sich Dein Anruf als besonders raffinierter Marketinggag entpuppen würde. Oder als Trickbetrug. Jetzt gleich, habe ich gehofft, wird er anfangen von Geldproblemen und Verwandtschaft und Notlage zu reden, und dann hole ich aus zum Gegenschlag. Aber ich habe mich getäuscht. Haarklein hast du mir erklärt, wie du bei deiner Recherche vorgegangen bist. Dass du erst zum Hörer gegriffen hast, als du dir ganz sicher warst. Die muss es sein. Ich bin schon in der Stadt, hast Du gesagt. Am nächsten Tag haben wir uns getroffen.

Der lange verschollene Bruder will jedoch mehr als sich kurz vorstellen und einen Kaffee trinken. Er will mehr über seinen Vater erfahren, um mehr über sich zu erfahren. Elisabeth verspricht, darüber nachzudenken und verfängt sich durch diese kleine Gefälligkeit in den Fallstricken ihrer Vergangenheit. Der Vater, wie sie ihn nennt, war ein schwieriger Mensch, er hatte mehrere Affären, war ein Trinker, eine traurige Figur.

Du willst wissen, wo du herkommst. Du willst wissen, wer dich gezeugt hat. Du willst wissen, wer dein Vater war. Was er getan hat. Wie er gelebt hat. Ich frage mich: Kannst du daraus irgendwas ableiten, was Dich betrifft? Als junges Mädchen wollte ich Archäologin werden. Dann Ärztin. Und jetzt bin ich eine Schauspielerin, die mit einem Arzt zusammen ist und in ihrer Vergangenheit gräbt, weil ihr halber Bruder aufgetaucht ist.
Eins wuchert im anderen herum.

Der Roman ist ein einziger langer Brief Elisabeths an ihren Halbbruder. Ausgehend von dem einzigen Foto, das von dem Vater und der Mutter des Bruders existiert, glücklich und jugendlich vor der Münchner Olympiahalle 1972, entspinnt sich eine Familiengeschichte, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zurückreicht. Elisabeths Vater ist da zwölf Jahre alt. Wir erfahren von der Enteignung der Familie, in ihrem Besitz befanden sich mehrere Fabriken, vom Alkoholismus des Großvaters, vom Wiederaufbau und dem Leben in der DDR, bis der Vater in den Westen geht,um Soldat zu werden. Durch die Geschichte der Familie weht immer auch ein Hauch Zeitgeschichte, der sie beeinflusst. Die Sucht des Vaters wütet im Körper der Familie wie ein Krebsgeschwür. Immer wieder hat er unberechenbare Tobsuchtsanfälle, nachts weckt er besoffen seinen Sohn, um ihn aus der Bibel vorlesen zu lassen. Auf der Stirn des Vaters prangt eine Narbe, die sein Vater, Elisabeths Großvater, ihm zugefügt hat, als der, randvoll mit Rotwein, ein Glas nach ihm wirft.

Ich bin wütend. Auf Dich, weil du mir das alles eingebrockt hast. Ich bin wütend auf den Vater, weil er mich gemacht hat. Sein Leben hängt an mir dran wie eine zweite, zerfetzte Haut, die ich nicht loswerde. Ich kratze und ziehe und reiße, aber sie geht nicht ab. Sie wächst immer wieder nach. Hässlich. Wuchernd. Und sie vernarbt. An Stellen, die ich nicht vermutet hätte. An Orten, die man nicht einmal im Spiegel sehen kann.

Die Beschäftigung mit ihren Erinnerungen wirft Elisabeth vollkommen aus der Bahn. Die Grenzen zwischen ihr und ihrem Vater verwischen immer mehr. Sie fährt nach Wien und nach N., in die Stadt, in der er aufgewachsen ist. Sie sucht Menschen, die ihn kannten, die ihr mehr über ihn erzählen können. Zunächst zwar angetrieben von der Bitte ihres Halbbruders, dann aber zusehends aus einer inneren Notwendigkeit heraus. Ihre Identität, ihr Leben, alle steht plötzlich auf tönernen Füßen, bröckelt und wackelt. Einfühlsam, aber nicht rührselig, poetisch, aber nicht pathetisch beschreibt Björn Bicker den Weg dieser Frau, lässt uns in der Retrospektive teilhaben an ihrem Taumeln, teilhaben an ihrer Kindheit, an ihren Zweifeln. Für mich, die ich meinen Vater ebenso wenig kenne wie Elisabeths Halbbruder den seinen, waren die Fragen, die dieser Roman aufwirft, auch auf ganz persönlicher Ebene von Bedeutung: Was würde sich ändern, wenn ich wüsste, was er für ein Mensch ist? Würde ich mich ändern? Björn Bicker hat einen beeindruckenden Roman geschrieben, über Familie(n), über Erinnerungen und Identität vor dem Hintergrund deutscher Geschichte, über das Vergessen und Verdrängen – vielleicht auch das Vergeben angesichts neu eroberter Handlungsspielräume. Elisabeth ist eine authentische, eine willensstarke Protagonistin, nicht frei von den Einflüssen ihrer Vergangenheit, aber auch nicht fremdbestimmt. Eine absolute Empfehlung für jeden, den Familiengeschichten begeistern, für jeden, der auf der Suche nach Antworten ist. Auf die Frage danach, was wir erben, aus der Geschichte, der ganz großen und der ganz persönlichen.

Es ist eine weise Fügung der Weltordnung,
daß wir nicht wissen, wieweit wir selbst
das Leben vergangener Menschen fortsetzen,
und daß wir nur zuweilen erstaunt merken,
wie wir in unseren Kindern weiterleben.
Gustav Freytag

Eine weitere sehr lesenswerte Rezension findet ihr bei Mara von Buzzaldrins Bücher.

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