Alle Artikel mit dem Schlagwort: wallstein verlag

Lukas Bärfuss – Hagard

Was ist eigentlich Hagard? Im Französischen jedenfalls bedeutet es “verstört” und man kann mit Fug und Recht behaupten, sich nach der Lektüre von Bärfuss’ neuem Roman in einer mindestens artverwandten Stimmung vorzufinden. Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 erzählt Lukas Bärfuss die Geschichte eines Ausbruchs, in dem Realität und Obsession miteinander verschwimmen. Ein Mann namens Philip entdeckt nach einem geplatzten Geschäfstermin im Gewimmel der Fußgängerzone die “pflaumenfarbenen Ballerinas” einer Frau. Einer spontanen Eingebung folgend beginnt er, sich an ihre Fersen zu heften, ohne genau zu wissen, was ihn eigentlich dazu treibt. Er bewundert ihre zierliche und leichtfüßige Gestalt und ihren Duft, den er sich mehr denkt als er ihn aus der sicheren Entfernung, die er beibehält, riechen könnte. Mehr und mehr entwickelt sich eine Art von Beziehung und Dringlichkeit, die in der Wirklichkeit durch nichts gerechtfertigt wäre. Obwohl Philip der Frau bis zu dem Haus folgt, in dem sich mutmaßlich ihre Wohnung befindet, sieht er kein einziges Mal ihr Gesicht. Sie bleibt ein Phantom für ihn, eine leere Fläche, auf die er alles …

Jürg Halter & Tanikawa Shuntarõ – Das 48-Stunden-Gedicht

Jürg Halter ist ausgesprochen umtriebig, seine Denkanstöße auf Twitter (@halterjuerg) allemal eine Lektüre wert. Der Schweizer Lyriker, jahrelang als Rapper Kutti-MC unterwegs und im letzten Jahr auch beim Bachmannpreis zu sehen, schreibt seit kurzem auch für die Theaterbühne. Mit dem 48-Stunden-Gedicht aber widmet er sich in Kooperation mit dem japanischen Lyriker Tanikawa Shuntarõ wieder dem Gedicht und seiner grenzüberschreitenden Kraft. Das 48-Stunden-Gedicht ist gleichsam eine Fortsetzung liebgewonnener Gewohnheiten. Bereits zwischen 2007 und 2011 entstand mit Sprechendes Wasser ein Kettengedicht der beiden Lyriker, die neunundvierzig Jahre und zwei verschiedene Kulturen voneinander trennen. Ein Hindernis ist das mitnichten. Entstand ihr erstes Projekt noch rein virtuell durch regen E-Mail Kontakt zwischen Tokyo und Bern, haben sie sich 2014 in Japan getroffen, um gemeinsam an einem dynamischen und experimentellen Gedicht zu arbeiten. Die Arbeitsweise ist dabei so ungewöhnlich wie essentiell für diese Art des Schreibens. Die Dichtenden sitzen nicht allein in abgeschlossenen Räumen und arbeiten ihre Texte aus, sie reagieren aufeinander, regen sich gegenseitig unmittelbar an. In Begleitung von zwei Übersetzern, die jeweils eine Passage ins Deutsche bzw. Japanische …

Kurz und knapp rezensiert im Mai

Zum zweiten Mal schon gibt es auf dem Blog die k&k-Rezensionen. Diesmal mit zwei ganz unterschiedlichen Romanen und einer Graphic Novel, die überraschend in meinem Briefkasten gelandet ist. Daniela Danz – Lange Fluchten Nach einem Zwischenfall wird Constantin Staas, genannt Cons, aus dem Militärdienst entlassen und damit einer Beschäftigung beraubt, für die er sich wie geschaffen wähnt. Seitdem ist mit ihm wenig anzufangen. Ein Haus wollte er für seine Familie bauen, für seine Frau Anne und die beiden Söhne. Stattdessen leben sie nun schon schmerzlich lange getrennt in einem provisorischen Baucontainer. Cons kämpft um eine Anerkennung als Wehrdienstbeschädigter, obwohl er nie im Krieg gewesen ist. Obwohl er schon selbst nicht mehr weiß, was mit ihm geschehen ist. Sein sterbender Freund Henning rüttelt schließlich an Cons’ Festung und versucht, ihn aus der Lähmung des Nichtstuns zu befreien. Daniela Danz lehnt diesen Roman an die Legende des heiligen Eustachius an, gibt ihm aber ein modernes und zeitgemäßes Gewand. Intensiv erzählt sie vom Scheitern und Verlieren, das unerklärlich und unüberwindbar, aus der Feder von Daniela Danz aber dennoch …

Steven Bloom – Das positivste Wort der englischen Sprache

Es beginnt in den 50er Jahren in Amerika. Norman Goldstein ist Jude und verliebt sich in eine schwarze Kommilitonin. Er beschließt kurzerhand und recht unbedarft, dass er sie heiraten wird. Mit diesem Umstand beginnt Steven Blooms rasanter Ritt durch die US-Geschichte, durch das morastige Gelände voller Rassismus, Geschlechterkampf und Unruhen hinein in eine unsichere Gegenwart. Ist es ein opulenter 700 Seiten Roman geworden? Mitnichten! Das positivste Wort der englischen Sprache ist ,yes’. So endet auch der Ulysses. ,Yes’ als Ausdruck der Zustimmung hören Norman und seine schwarze Frau Savannah bei der Wohnungssuche jedoch ausgesprochen selten. Es ist schlecht kaschierter, unverhohlener Rassismus, der ihnen entgegenschlägt. Aus Verzweiflung bittet Norman, eine weiße Kommilitonin ihn zu einer Besichtigung zu begleiten, um seine Chancen zu verbessern. Zwar gelingt dieser Schachzug, die Ehe jedoch erledigt sich schnell. Fast klanglos und beiläufig gehen beide getrennte Wege, es gibt keinen großen Knall, keine pathetischen Anschuldigungen. Vielleicht waren es von Anfang an die falschen Beweggründe für eine Hochzeit, füreinander. Und trotzdem Norman zwar hier und da mit Frauen zusammenstößt, entwickelt er einen höchst …

Kai Weyand – Applaus für Bronikowski

Vielleicht wäre Nies’ Leben ja ganz anders verlaufen, wenn seine Eltern nicht im Lotto gewonnen hätten. Wenn sie nicht, angesichts dieses unerwarteten Geldsegens, darauf verfallen wären, ihren Lebenstraum wahrzumachen und nach Kanada auszuwandern. Wenn er sich nicht von einer Bäckereifachverkäuferin eine Straße empfehlen lassen und beim Bestatter angefangen hätte. Kai Weyand erzählt eine charmante Geschichte von Leben und Tod, die ausnehmend komisch und herrlich skurril geraten ist! Wenn du stirbst, klatsche ich für dich, sagte er, noch bevor er NC aus seiner Umarmung entließ und sich wieder um die Särge kümmerte. Wenn die eigenen Eltern plötzlich nach Kanada auswandern und ihren Söhnen eröffnen, dass das ohne sie geschehen wird – weil der eine ja schon so groß und selbständig ist und der andere es sicher bald werden wird -, muss man dagegen mit den verfügbaren Mitteln rebellieren. Nies benennt sich um. Fortan heißt er nicht mehr Nies, was ja ohnehin ein eher spezieller Name ist, eine Abkürzung von Dionysos, um genau zu sein. Er nennt sich NC. No Canadian. Seine Eltern beeindruckt das wenig, sie …

Teresa Präauer – Johnny und Jean

Sie kommen aus der Provinz in die “zweitgrößte Stadt”, der eine mit beeindruckender Präsenz, der andere mit zahlreichen Bildern von Fischen. Beide geben sie sich neue Namen, um das Alte hinter sich zu lassen, um all das abzustreifen, was ihnen jetzt, als Kunststudenten in der hippen Großstadt, bloß noch lästig erscheint. Teresa Präauer schreibt einen Roman von Freundschaft und Kunst, aber auch von den Unsicherheiten des Erwachsenwerdens. Johnny und Jean – so nennen sie sich – sind Kunststudenten und infolgedessen schon qua ihrer Studienwahl zu einer gewissen Selbstinszenierung verpflichtet. Aus der Kleinstadt gelangen beide Männer in die große Stadt; der eine fügt sich mit seiner Präsenz und seinem Charisma fast organisch in seine Umgebung, der andere kommt mit Bildern von Fischen daher, die wenig Beachtung in Künstlerkreisen finden. Jean, französisch ausgesprochen, ist der hippe und überall beliebte Künstlertyp, dem alles zu gelingen scheint, was er anpackt. Johnny, “der Amerikaner”, fantasiert zunächst bloß, stumm wie seine getuschten Fische, von einer Freundschaft zu Jean. Zu Jean-der-alles-kann, Jean-der-jeden-begeistert. Er ist nur Johnny-der-Zigaretten-dreht. Ein Jahr lang gehe ich geduckt …

Ron Segal – Jeder Tag wie heute

Adam Schumacher ist ein bekannter jüdischer Schriftsteller, der in die Jahre gekommen ist. Als knapp neunzigjähriger Holocaustüberlebender kehrt er zum ersten Mal nach dem Tod seiner Frau nach Deutschland zurück, um für ein Literaturmagazin sein Leben zu erzählen. Doch viel Zeit bleibt ihm nicht mehr, seine Erinnerungen werden brüchig und reißen, Fakten und Fiktion fließen ineinander. Wer je behauptet, unmögliche Dinge könne man nicht glauben, tut das aus Mangel an Erfahrung. Würde er nur täglich eine halbe Stunde trainieren, könnte er bald noch vor dem Frühstück sogar sechs unmögliche Dinge glauben. Adam Schumacher hat in seinem Leben schon viele unmögliche, ja, unglaubliche Dinge gesehen. Dinge, von denen einem der gesunde Menschenverstand ohne Umschweife sagen würde, sie existierten nur in seiner Fantasie. Adam ist ein angesehener jüdischer Schriftsteller, nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Frau Bella nach Israel ausgewandert und hat seit diesem Tag deutschen Boden nicht mehr betreten. Doch als seine Frau Bella, eine begnadete Harfenspielerin, durch ein unglückliches Ereignis aus dem Leben gerissen wird – ironischerweise, der jüdische Humor ist hier mit Händen zu …

Lukas Bärfuss – Koala

Lukas Bärfuss ist ein Schweizer Autor und Dramaturg. Bevor er sich dem Schreiben widmete, war Bärfuss in vielen anderen Berufen tätig, so auch als Buchhändler, Tabakbauer und Gärtner. Er war Lehrbeauftragter am Schweizer Literaturinstitut und Dramaturg am Schauspielhaus Zürich. Seine Stücke werden weltweit an Theatern aufgeführt, sein Debütroman ,Hundert Tage‘ wurde für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert. Just erhielt Bärfuss den Solothurner Literaturpreis. ,Koala‘, sein jüngster Roman, widmet sich dem Selbstmord seines Bruders. Er erscheint, wie auch viele andere Werke Lukas Bärfuss’, im Wallstein Verlag. Man hatte mich in meine Heimatstadt geladen, damit ich einen Vortrag über einen deutschen Dichter halte, der zweihundert Jahre früher, an einem Tag im November, am Wannsee in Berlin eine Mulde gesucht und danach seiner Freundin Henriette Vogel ins Herz und schließlich sich selbst eine Kugel in den Rachen geschossen hatte. Für die meisten Menschen ist ein Selbstmord, trotzdem er konstant in der Mitte unserer Gesellschaft anzutreffen ist, ein Thema, über das man lieber schweigt. Ganz gleich, ob man selbst einen Angehörigen durch Suizid verloren hat oder sich …

Ludwig Laher – Bitter

Ludwig Laher ist ein österreichischer Autor. In Linz geboren, studierte er Germanistik, Anglistik und Klassische Philologie und arbeitete zunächst als Gymnasiallehrer. Seit 1998 ist er als freier Schriftsteller tätig und erhielt zahlreiche Literaturpreise und Stipendien. 2011 stand er mit seinem Roman ,Verfahren’ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. ,Bitter‘ ist sein neuester Roman und erschien im Wallstein Verlag. Es ist kein Geheimnis, dass viele hochrangige NS-Funktionäre nach Gründung der Bundesrepublik ihre jeweiligen Karrieren in Amt und Würde weitgehend ungehindert fortsetzen konnten, so sie sich nicht, wie zum Beispiel Adolf Eichmann und Josef Mengele, ins Ausland abgesetzt hatten. Diese lockere bis (bewusst) schlampige Verfahrensweise galt als eine der Triebfedern der 68er-Bewegung. Während die alte Generation die Vergangenheit ruhen lassen wollte, forderten die Kriegskinder vehement Aufklärung. Ludwig Laher führt uns nun einen schnittigen und wendigen Juristen vor, der als Sturmbannführer bei der SS und Gestapo-Offizier den Tod vieler Menschen zu verantworten hatte – und dafür weitgehend ungestraft blieb. Der junge Fritz Bitter ist einer von Tausenden Hingerissenen, ein Erweckungserlebnis ist der Linzer Riesenauflauf jedoch nicht für ihn. …

Ernst Glaeser – Jahrgang 1902

Ernst Glaeser (1902-1963) war ein deutscher Autor. Er studierte Philosophie, Gemanistik und Literaturwissenschaft und war schon in jungen Jahren Redakteur der Frankfurter Zeitung sowie von 1928 bis 1930 Leiter der literarischen Abteilung des Südwestdeutschen Rundfunks. Diese Position dürfte Glaeser in nicht unwesentlichem Umfang dem Erfolg seines erstmals 1928 erschienenen Romans ,Jahrgang 1902′ zu verdanken haben, der ihn über Nacht bekannt und zum Sprecher einer ganzen Generation machte. Angesichts des Gedenkjahres 2014 entschloss sich der Wallstein Verlag, dieses Stück romanhafte Zeitgeschichte neu zu veröffentlichen. Im Folgenden berichte ich, was meine Freunde und ich vom Krieg gesehen haben. Es sind nur Episoden. (…) Meine Beobachtungen sind lückenhaft. Es wäre mir leicht gewesen, einen “Roman” zu schreiben. Ich habe mit diesem Buch nicht die Absicht zu “dichten”. Ich will die Wahrheit, selbst wenn sie fragmentarisch ist wie dieser Bericht. Mit diesen Worten unterbricht Ernst Glaeser den Fluss seines Romans und verdeutlicht, dass nicht das Stilisieren, sondern das Dokumentieren sein Anliegen als Schriftsteller ist. So will Glaeser sein Werk offensichtlich schon damals mehr als Zeitpanorama begriffen wissen denn als …