Alle Artikel mit dem Schlagwort: edition atelier

Arthur Rundt – Marylin

Chicago, Roaring Twentys. Ein junger Mann hat ein Auge geworfen auf eine Frau, die ihm jeden Morgen im Hochbahnzug auf dem Weg zur Arbeit begegnet. Er verfolgt sie unauffällig, umkreist sie und ihr Leben wie ein geduldiges Raubtier, das der entscheidenen Gelegenheit harrt. Nichts zeugt von stürmischer Romantik, als Marylin und Philip schließlich zusammenfinden und in New York ein gemeinsames Leben aufbauen. Zwischen ihnen bleibt eine Distanz, die aufs Engste mit dem schwelenden Rassismus der amerikanischen Gesellschaft verknüpft ist. Arthur Rundt kennt dieser Tage wohl kaum noch jemand. Zu seiner Lebenszeit war er an der Volksbühne und dem Deutschen Theater beschäftigt, verkehrte in Wien u.a. mit Robert Musil und arbeitete als Auslandskorrespondent für verschiedene Zeitungen. Seine Reisen insbesondere nach Amerika haben großen Eindruck auf Rundt gemacht; so erschien 1926 Amerika ist anders und schließlich 1928 Marylin als Fortsetzungsroman. Beide Texte gründen auf seinen Beobachtungen der amerikanischen Gesellschaft und dem ihr immanenten Rassismus. Mutmaßlich hat es in der Literatur kaum eine leidenschaftslosere Beziehung gegeben als die zwischen Marylin und Philip. Sie ist eine zierliche Frau von …

Wolfgang Popp – Wüste Welt

Mit “Die Verschwundenen” präsentierte Wolfgang Popp im letzten Jahr vermutlich einen der originellsten Erzählbände des Jahres. Im Zentrum seines aktuellen Romans steht eine Bruderrivalität, die bis in die Wüste Marokkos führt. “Wüste Welt” ist ein mystischer und ätherischer Roman, der sich streckenweise wie eine Fata Morgana anfühlt. Sie sind Brüder, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Der eine so leidenschaftslos und kontrolliert wie ein Uhrwerk, rational und pragmatisch bis in die Haarspitzen. Der andere ein Abenteurer, eine Naturbegabung, ein dynamischer Jungspund, dem alles gelingt, was er anpackt. Und der selbst aus dem, was ihm misslingt, noch einen Vorteil für sich herausschlägt. In seiner Kindheit und Jugend wurde der Ältere von beiden stets vom Jüngeren überflügelt. Immer, wenn er glaubte, etwas nur für sich zu haben, wurde es nur kurze Zeit später vom hochbegabten Bruder vereinnahmt. Immer war dieser Bruder präsent, selbst wenn er nicht körperlich anwesend war. Als unerreichbarer Orientierungspunkt am Horizont, durch den die eigene Unzulänglichkeit nie auch nur für einen kurzen Moment außer Sicht gerät. Der Protagonist sagt sich von seinem Bruder los …

Wolfgang Popp – Die Verschwundenen

Auch wenn wir uns manchmal dessen gar nicht bewusst sind: Jeden Tag verschwinden Menschen aus unserem Fokus, die wir einmal kannten. Manche gut, andere nur flüchtig, in ganz verschiedenen Kontexten. Wenn wir manche davon wiedertreffen, ist Vieles ganz anders geworden, haben sich Leben und Prioritäten plötzlich verschoben. Was früher einmal passte, kann heute Reibung verursachen. Wolfgang Popp erzählt gekonnt von Wiederbegegnung und Verlusten und strickt dabei ein Netz, das über die Grenzen der einzelnen Geschichten hinaus wirkt. Keiner tauscht sich so offen aus, bemerkte ich erstaunt, wie zwei Fremde im Schutz ihrer Fremdheit. Ein Hotelkritiker trifft in Neapel auf einen ehemaligen Lehrer, der damals überraschend und plötzlich gekündigt hatte und aus der Stadt verschwunden war. Ein sterbender Jugendfreund bittet den anderen nach Jahren der Funkstille seine Notizen in Buchform zu gießen und zu veröffentlichen. Nicht Eulen nach Athen, sondern das Foto eines vermeintlich ausgestorbenen Käuzchens wollen zwei alte Freunde aus Griechenland heraustragen, um ein hohes Preisgeld einzustreichen. Ein Mann entscheidet sich mit seinem Liebhaber für eine Expedition zu den südamerikanischen Pequod und wird über die …

Margit Mössmer – Die Sprachlosigkeit der Fische

Gerda ist überall und nirgends. Sie streift durch London, Istanbul, New York, Madrid und Paris. Sie heilt einen vermeintlich alzheimerkranken Hahn, ist Bürgermeisterin in Catania und verkauft im Foyer des Belle Pigalle Karten für eine mittelmäßige Burlesque Show. Margit Mössmers Gerda-Fragmente sind völlig verrückt und abgedreht, irgendwas zwischen Märchen und Reisebericht. Gerda ist eine ungewöhnliche junge Frau und – so scheint es jedenfalls – überall auf der Welt zuhause. Heutzutage ist das Reisen in mehr oder weniger ferne Länder freilich kein Luxus mehr oder eine Absonderlichkeit, absonderlich ist aber durchaus, was Gerda mitunter erlebt. Da wird im spanischen Stierkampf ein Torero auf die Spitze eines Kirchturms geschleudert, in dem er fortan lebt. Sie selbst wird von einer Seerose in der Mitte des Bleder Sees auf den Grund gezogen, wo sie zum ersten – aber nicht endgültigen – Mal stirbt. Und schließlich gerettet wird von einem Mann namens Francesco Albani, der seit Jahren die Zeit damit verbringt, Dinge aus dem Wasser zu ziehen. Ein Hase, der Gerda ohne ihr Zutun gefolgt ist, verdurstet in seinem Käfig. …

Joseph Roth – Nacht und Hoffnungslichter

Joseph Roth ist bekannt für Romane wie “Radetzkymarsch”, “Hiob” oder “Die Legende vom heiligen Trinker”. Seine redaktionelle und journalistische Tätigkeit allerdings wird häufig unterschlagen und zu wenig gewürdigt. Das sollte sich ändern, denn Joseph Roth ist ein brillianter Beobachter, der in seinen oft nur wenige Zeilen umfassenden Miniaturen das (Großstadt)Leben seiner Zeit umfassend abbildet. Er besaß keine Möbel und keine Sachen. Sein altmodischer Lederkoffer war mit Büchern, Manuskripten und Messern vollgestopft. Die Messer dienten nicht dem Mord – er liebte einfach Messer. …schrieb Ilja Ehrenburg, russischer Schriftsteller und Journalist, über Joseph Roth. Sein später verklärender Blick auf die Habsburger Monarchie, seine Alkoholabhängigkeit und chronischen finanziellen Sorgen sind weithin bekannt, weniger geläufig sind seine redaktionellen Arbeiten für Zeitungen wie ,Der Neue Tag’, das ,Prager Tageblatt’, die ,Freie Deutsche Bühne’ oder die ,Neue Berliner Zeitung’. Roth pendelte von Großstadt zu Großstadt, von Wien nach Berlin und hinterließ dort in der journalistischen Landschaft unverkennbare Spuren. Diese Reportagen zu lesen, bedeutet nicht nur, sich Joseph Roth von einer stilistisch ganz anderen Seite zu nähern – auch wenn es ihm …

Das Eigene und das Fremde

Was wäre, wenn uns die vergessenen und verblassten Widmungen in alten Büchern mehr erzählen könnten als die Geschichten in ihnen? Einzelgängerin Hanna ist eine unsichtbare Jägerin nach Worten, die von Menschen in Büchern zurückgelassen wurden. Worte an eine längst verflossene Liebe, die Eltern, Kinder, Kollegen. Hanna zieht sich in sie zurück wie in eine Welt, die nur auf sie gewartet hat. Die fiktiven Erzählungen eines Autors sind für Hanna uninteressant geworden. Was die junge Frau, Stammgast im Antiquariat und Meisterin des unbemerkten Stöberns, mittlerweile viel mehr interessiert, sind die handschriftlichen Widmungen, die Menschen in den Büchern hinterlassen haben. Sie analysiert das Geschriebene,malt sich aus, zu welchen Menschen es passen, in welchen Situationen es geschrieben sein könnte. Mal ist es nur ein schlichter Gruß, mal sind es die unsicheren Worte eines Verliebten, der seine Gefühle nur schwer in Worte fassen kann. Hanna zieht sich in die vermeintlichen Geschichten anderer zurück, ihr eigenes Leben beginnt zu stagnieren und nach der Begegnung mit einer mysteriösen Frau sogar wilde Blüten der Fantasie zu treiben. Könnte man sich nicht jedes …