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Anne Ameri-Siemens – Ein Tag im Herbst

Der »Deutsche Herbst« jährt sich in diesem Jahr zum vierzigsten Mal. Im September 1977 wird Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt, etwas über vier Wochen später die Lufthansamaschine »Landshut« in Zusammenarbeit mit palästinensischen Terroristen. Ziel ist es, die Inhaftierten in Stuttgart Stammheim aus dem Gefängnis freizupressen. Während die Passagiere der Landshut schließlich von der seinerzeit  jungen Spezialeinheit GSG9 befreit werden können, wird Schleyer von der RAF in einem Waldstück erschossen. Die Bundesregierung hatte sich geweigert, Schleyer gegen die Gefangenen auszutauschen. Anne Amerie-Siemens, die den Deutschen Herbst nicht bewusst erlebt hat, begibt sich mithilfe zahlreicher Zeitzeugen auf Spurensuche und schlägt auch implizit einen Bogen zur terroristischen Gefährdung heute.

Terror ist keine Erfindung der letzten Jahre und ganz sicher nichts, auf das radikale Islamisten ein Monopol besäßen. Vom rechts- bis zum linksextremen Lager gibt es in der Geschichte zahlreiche Beispiele für terroristische Aktionen, die Rote Armee Fraktion, hervorgegangen aus einem radikalisierten Teil der 68er-Studentenbewegung, ist eines davon. Seit ihrer Gründung im Mai 1970 hat sie die junge Bundesrepublik entscheidend geprägt und dazu beigetragen, die Gräben zwischen den politischen Lagern gefährlich zu vertiefen. Auf der einen Seite der Staat, auf der anderen Seite linksliberal gesinnte Kräfte oder vermeintliche Sympathisanten, die sich als Männer bereits mit einer progressiven Langhaarfrisur der Kollaboration mit den Staatsfeinden verdächtig machen konnten, ohne je im militanten Milieu unterwegs gewesen zu sein. Den Höhepunkt dieser gegenseitigen Provokation – angeheizt auch durch den deutschen Verfassungsschutz – bildete schließlich der Deutsche Herbst. Streng genommen nimmt der bereits im Frühjahr 1977 seinen Anfang: im April ’77 wird Generalbundesanwalt Siegfried Buback von einem Kommando der RAF erschossen, zweieinhalb Monate später dann der Vorstandschef der Dresdner Bank Jürgen Ponto. Ein Anschlag auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe scheitert Ende August. Die Stimmung ist nervös, angestachelt, überreizt. Der Staat sieht sich in seinen Grundfesten erschüttert.

Die Frage, inwieweit die Roten Brigaden von Geheimdiensten, auch von ausländischen, unterwandert oder gar gesteuert wurden, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Die Menschen in Italien waren fassungslos. Dennoch, so war mein Eindruck, ging die italienische Gesellschaft anders mit der Bedrohung und den Verlusten um. Es herrschten Betroffenheit und Besorgnis – aber nicht darüber, dass das System, der Staat, von den Terroristen zerstört werden könnte. Hinzu kam, dass es nicht dieses innergesellschaftliche Misstrauen gab: In Bonn passierte es einigen meiner jüngeren Kollegen, guten Journalisten, die lange Haare hatten und äußerlich dem Zeitgeist der Siebziger entsprachen – dass sie von Nachbarn angezeigt wurden. (…) Diese Kluft war enorm. Ich empfand die Gesellschaft in dieser Hinsicht als sehr gespalten.
Patricia Clough

Anne-Amerie Siemens konzentriert sich in ihrer vielstimmigen Rekonstruktion der Ereignisse nun vor allem auf die Entführung Hanns-Martin-Schleyers und der Landshut etwas über einen Monat später. Nicht nur, weil es noch immer unterschiedliche Meinungen über das damalige Vorgehen der Regierung gibt, sondern auch, weil die Ereignisse des Herbstes 1977 auch einen Wendepunkt in der Geschichte der RAF darstellen. Nach der Befreiung der Landshut nehmen sich in Stammheim die Inhaftierten der ersten Generation das Leben: Andreas Baader, Gudrun Ensslin, und Jan-Carl Raspe sterben, Irmgard Müller überlebt ihren Selbstmordversuch schwer verletzt. Die Rettung der Landshut-Passagiere ist Schleyers Todesurteil. Wochenlang hat man versucht, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen, hat man taktiert – mit den Inhaftierten wie auch mit Schleyers Sohn Hanns-Eberhard, der bis zuletzt nicht glauben will, dss die Bundesregierung nicht die Absicht hat, seinen Vater gegen freigelassene Gefangene auszutauschen. Der Staat, so das Diktum des Bundeskanzlers Schmidt und seinem »Kleine Lage« genannten Beraterstabs, dürfe sich nicht erpressbar machen. Zwei Jahre zuvor hat sich die Bundesregierung noch auf einen Deal eingelassen, als der Landesvorsitzende der Berliner CDU Peter Lorenz von der Bewegung 2.Juni entführt wird. Helmut Schmidt wird diese Entscheidung später mit krankheitsbedingtem Fieber begründen. Wiederholen darf sie sich nicht.

Die Formel, der Staat dürfe sich nicht erpressbar machen, war über alle Institutionen hinweg bestimmend – und dafür haben die politisch Verantwortlichen meine Familie auch gezielt belogen, getäuscht und uns ihre Unterstützung vorenthalten. Das waren bittere Erkenntnisse, zu denen ich später kam.
Hanns-Eberhard Schleyer

»Ein Tag im Herbst« lässt nun zahlreiche Zeitzeugen und Entscheidungsträger die Ereignisse rekapitulieren: Es sprechen u.a. Schleyers Sohn, Hans-Jochen Vogel als Mitglied der »Kleinen Lage«, Burkhard Hirsch, damals nordrhein-westfälischer Innenminister, Stefan Aust, Jan Philipp Reemtsma, selbst nicht nur Zeitzeuge, sondern auch Opfer einer Entführung, Peter Jesse als Vollzugsdienstleister, der auch in Stuttgart Stammheim eingesetzt wurde, Klaus Eschen, als einer der Strafverteidiger Andreas Baaders, Heribert Prantl und Friedrich-Christian Delius als Zeitzeugen, Patricia Clough als Auslandskorrespondentin. Die Erinnerungen der Befragten wechseln sich immer wieder mit dem Sachtext ab und erzeugen so ein lebendiges, vielschichtiges Bild der Ereignisse. Sie zeigen vor allem: Vielleicht hätte es Alternativen zu dem unbeugsamen Regierungsverhalten zur Wahrung der Staatsräson gegeben. Die Geschichte der Schleyer-Entführung ist auch eine Geschichte von innerpolizeilichen Kommunikationspannen. Schon früh macht ein Beamter eine mutmaßlich konspirative Wohnung in Erftstadt-Liblar ausfindig, die er den Ermittlern als verdächtig meldet. Tatsächlich ist es die Wohnung, in der Schleyer gefangengehalten wird. Der Hinweis geht zweimal verloren. Es werden streitbare Gesetze erlassen, so z.B. das Kontaktsperregesetz, das den Inhaftierten in Stammheim nicht nur den Kontakt untereinander, sondern auch zu ihren Anwälten verbietet.

Die Trauer um meinen Vater hat mich und meine Familie begleitet. Auch die Frage, ob ein Staat nicht stärker ist, wenn er human handelt. Diese Frage ist jetzt so aktuell wie damals. Ohne ordnungspolitische Maßnahmen kann man Straftätern, auch Terroristen, nicht begegnen. Reflexartig werden nach Attentaten Stimmen laut, die härtere Gesetze fordern. In meinen Augen würde es ausreichen, bestehende Gesetze auszuschöpfen und die Diskussion stattdessen auf die Frage zu lenken, ob und wie man Menschen im Prozess der Radikalisierung noch erreichen kann.
Hanns-Eberhard Schleyer

Über allem steht damals die Frage: Wie viel seiner Freiheit opfert der Staat im Kampf mit seinen Feinden? Wo endet der Handlungsspielraum einer Regierung? Gibt es in Extremsituationen tatsächlich alternativlose Entscheidungen? Ist das Leben eines Einzelnen im Vergleich zu der abstrakten Größe gesellschaftlicher Sicherheit weniger erhaltenswert? Amerie-Siemens’ Buch liefert sicher keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen und auch keine historisch neuen Erkenntnisse zum Thema RAF oder Deutscher Herbst. Seine Qualität aber liegt darin, die Vergangenheit multiperspektivisch aufzuarbeiten und Verbindungslinien zu heutigen Bedrohungslagen aufzuzeigen; einer gespaltenen, aufgeheizten Gesellschaft etwa, in der Grabenkrämpfe das politische Klima bestimmen oder der allgegenwärtigen Gefahr terroristischer Anschläge. Möglicherweise lassen sich, wenn auch unter veränderten Umständen, Fehler der Vergangenheit vermeiden.

Anne Ameri-Siemens: Ein Tag im Herbst. Rowohlt Verlag. 320 Seiten. 19,95 €.

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