Bunburyismus ist nicht erst seit Oscar Wilde ein zweifelhafter, wenn auch bisweilen notwendiger Charakerzug. Tatsächlich haben wir wohl alle unseren Bunbury, unsere kleine Lebenslüge, unsere Hintertür. Selten aber wurde diese Hintertür auf so amüsante wie absurde Weise in Worte gekleidet. The Importance of Being Earnest ist auch heute noch erschreckend aktuell.
Oscar Wilde selbst betrachtete den Bunbury als sein bestes Stück. George Bernard Shaw hielt es für zu trivial, ein Theaterstück solle nicht nur sein Zwerchfell massieren, sondern ihn gleichermaßen anrühren wie belustigen. Das tat der Bunbury nicht. Uraufgeführt 1895 im Londoner St.James Theater entwickelte sich diese gleichzeitig absurd komische und bitterböse Abrechnung mit Heuchelei, Oberflächlichkeit und einer gewissen Verflachung des Charakters zu einem Klassiker, der bis in unsere Zeit hinein immer wieder von Regisseuren auf die Bühne gebracht wird. Was ist es, das den Bunbury auf so bewundernswerte Weise konserviert?
Hauptfiguren sind Jack und Algernon, zwei junge Männer, die sich jeweils eine fiktive Person erdacht haben, um ihre Eskapaden vor den kritischen Augen der Öffentlichkeit geheimzuhalten. Algernon erfindet seinen kränkelnden Freund Bunbury, um dem Stadttrubel entfliehen und aufs Land fahren zu können, Jack ersinnt einen höchst leichtlebigen Bruder namens Ernst, um das Land hinter sich lassen und öfter, als es angemessen wäre, in die Stadt verschwinden zu können. Beide Männer sind Dandys par excellence, wenn auch Jacks Familiengeschichte – er wurde in einer Handtasche an einem Bahnhof gefunden – Anlass zu allerlei Spekulationen und Gerede gibt.
Als Jack sich nun leidenschaftlich in Gwendoline, Algernons Cousine, verliebt und sein Freund Algernon voller Liebe für Cecily, den Mündel Jacks, entbrennt, kommt es zu unheimlich komischen Verwicklungen – denn beide haben ein ganz bestimmtes Kriterium für eine Verlobung: den Namen Ernst. Ernst verspricht ihnen Sicherheit und Solidität, alles andere ist bemerkenswert zweitrangig. Pointierte Dialoge und ein unzweifelhaftes Talent zur satirischen Überspitzung machen dieses Stück ungemein unterhaltsam. Wollen beide Männer, Jack und Algernon, sich doch sogar noch einmal auf den Namen Ernst taufen lassen. Wenn es nicht anders geht.
Das viktorianische Zeitalter hatte strenge moralische Standards, je höher man in die bessere Gesellschaft vordrang. Geld, der Name, ein charmantes Äußeres und eine tadellose Abstammung waren von größter Bedeutung, ganz zu schweigen von Anstand und Rechtschaffenheit. Wir wissen freilich von Oscar Wilde, dass er sich, bedingt durch seine Homosexualität, weit abseits von der zur damaligen Zeit anerkannten Norm bewegte, – ihm war bewusst, wie eng dieses Korsett geschnürt war und wie sehr es nur zur Repräsentation, nicht aber zum Leben taugte. Er dürfte nicht der einzige gewesen sein, der ein Doppelleben führte – eben einen “Bunbury” hatte.
Die Menschen in “Bunbury” sind von den Nöten durchschnittlicher Menschen erlöst: Sie leben ohne Trauer, ohne Leidenschaften, ohne Sexualität. Wenn sie etwas betrübt, dann höchstens eine nicht ganz so gelungene Formulierung. Wenn sie etwas erregt, dann höchstens der Gedanke an ein Butterbrot mit Gurkenscheibchen. Wenn sie sich verlieben (oder was sie so “verlieben” nennen), dann bestimmt nicht heftigerer Wünsche wegen, sondern weil sich Liebesaffären besonders gut im Tagebuch bereden lassen. (Benjamin Henrichs, “Großer Mann, was nun? Ein Notschrei nach Peter Zadeks Berliner Bunbury Inszenierung”, DIE ZEIT, 09.Mai 1980)
Die Protagonisten in Bunbury sind Oberfläche und reden von Oberflächlichkeiten. So kommt es, dass ein simpler Name wie Ernst so sehr an Bedeutung gewinnt, dass er verlobungsentscheidend ist. Hier geht es nicht mehr um den Menschen, nicht um seine Taten, sondern um das, was er darüber sagt, wie er darüber spricht, wie er sich präsentiert. Das dürfte Bunbury, selbst nach über 100 Jahren, hochaktuell halten. In einer Gesellschaft, in der zwar nicht mehr überwiegend nach Stammbaum und moralischer Unbeflecktheit, dafür aber nach stetiger Selbstdarstellung gefragt wird, erlangt die Präsentation einen deutlich höheren Stellenwert als ihr Inhalt. Zeitungen titeln, es sei von weit größerer Bedeutung, kompetent auszusehen als kompetent zu sein. Hinter der Fassade und den hohlen Phrasen also viel heiße Luft. So konstatiert auch Lady Bracknell im Stück: “In Angelegenheiten von schwerwiegender Bedeutung ist Stil das Wesentliche, nicht Aufrichtigkeit.”
Diese Art von bedeutungsloser Fassadenarbeit zugunsten der guten Wirkung hat sich nahezu unbeschadet in unsere Zeit hinübergerettet. Viel hat sich nicht geändert. Oscar Wildes Stück war schon nach der Uraufführung ein grandioser Erfolg, zahllose Vertreter der britischen upper class klatschten sich indessen bei einem Stück auf die Schenkel, in dem sie selbst vorgeführt, in dem ihre leeren moralischen Hülsen entlarvt wurden. Ob sie sich dessen bewusst waren, ist schwer zu sagen – auch heute sieht sich ja jeder in seiner jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe als ruhmreiche Ausnahme vom schändlichen Rest. Im Februar war die Premiere im St.James Theater, im April wurde Oscar Wilde inhaftiert. Wegen seiner Affären mit Männern. Dieselben, die über die Vorführung der gesellschaftlichen Moral herzhaft gelacht hatten, stellten ihn nun an den Pranger. Es sollte das Ende von Oscar Wildes schriftstellerischer Karriere sein, im Jahr 1900 starb er. Sein Bunbury aber wird bleiben, als Mahnmal gegen Heuchelei, Janusköpfigkeit und Dünkel.
JACK: Ich bin dieser Geistreichelei sterbensüberdrüssig. Jeder ist heutzutage geistreich. Du kannst nirgendwo hingehen, ohne geistreiche Leute zu treffen. Das ist förmlich zu einer öffentlichen Plage geworden. Ich wünschte zum Himmel, wir hätten noch ein paar Dummköpfe übrigbehalten.
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