Erzählungen, Rezensionen
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Hartmut Lange – Das Haus in der Dorotheenstraße

Hartmut Lange ist ein deutscher Schriftsteller. 1939, Lange war zwei Jahre alt, wurde seine Familie nach Polen umgesiedelt, 1946 kehrte er nach Deutschland zurück. Er studierte Dramaturgie an der Deutschen Hochschule für Kunst in Potsdam-Babelsberg und war Anfang der 1960er Jahre Dramaturg am Deutschen Theater Berlin-Ost. 1965 verließ Lange die DDR. Heute lebt er in Berlin und Italien.

Bevor ich dieses schmale Büchlein mit fünf besonderen Novellen in die Hände bekam, hatte ich noch nichts von Hartmut Lange gelesen. Mir gefiel schlicht der Klappentext und die angedeuteten Seltsamkeiten, die den Protagonisten der Geschichten wie selbstverständlich zustießen, ein nonchalantes Eindringen des Phantastischen in die Wirklichkeit. Jede Novelle hat ihr kleines märchenhaftes Element, das Lange aber so gut in die herrschenden Verhältnisse einbettet, dass man sofort überzeugt ist, dass es gar nicht anders geschehen sein kann.

Zuerst begegnen wir Michael Denninghoff, einem Architekten, bevor er Taxifahrer wurde, der seine Frau überraschend verlor und nun dem Mann nachstellt, der in die ehemals gemeinsame Wohnung der beiden eingezogen ist. Die Fassungslosigkeit über ihren Tod hat es ihm unmöglich gemacht, zu begreifen und so jagt er noch immer, trotzdem er sich der Widersinnigkeit seines Verhaltens bewusst ist, der Vergangenheit nach.

Er wirkte nachdenklich und vielleicht erinnerte er sich an eine Zeit, in der er in einem Büro tätig gewesen war, in einem Raum, kaum zwanzig Meter im Quadrat, sodass er, um das Gefühl von Eingesperrtheit loszuwerden, gezwungen war, immer wieder vor düe Tür zu treten. Zugegeben, ein Taxi war an Begrenztheit nicht zu übertreffen. Hier gab es überhaupt nur vier Sitzgelegenheiten, und hinter dem Lenkrad fühlte man sich eingepfercht. Aber hinter den Scheiben ringsherum begann die Welt, und man war, man brauchte nur mit dem Fuß auf das Gaspedal zu drücken, ständig unterwegs, und diese Freiheit zum Hierhin und Dorthin war es schließlich, die Denninghoff dazu veranlasst hatte, seinen Beruf als Architekt aufzugeben.

Besonders ein Gemälde hat es Denninghoff angetan, ein Gemälde, für das er sogar kurzentschlossen nach Paris reist. ‘Straße in Paris an einem regnerischen Tag’ von Gustave Caillebotte. Ein Meisterwerk des Impressionismus, von dem Michael und Kathrin eine Reproduktion an der Wand ihrer Wohnung hängen hatten, ein Gemälde, vor dem Michaels Frau mehr als einmal gedankenversunken stand. Diese Besessenheit bringt Denninghoff sogar dazu, sich unbefugt Zutritt zu seiner alten Wohnung zu verschaffen. Letztlich verschwindet Denninghoff spurlos, übrig bleiben nur eine Notiz und einige Krähenfedern, die jedoch niemand zur Kenntnis nimmt, als man am Teltowkanal nach ihm sucht.

Gustave_Caillebotte_-_La_Place_de_l_Europe__temps_de_pluie

Danach werden wir Zeuge der paranoiden Anwandlungen des Teltower Bürgermeisters Andreas Schmittke. Er ist ein Vollblutpolitiker, geht völlig auf in seinen Verpflichtungen gegenüber der Teltower Gemeinde, – wenn da nicht dieser krähenartige Schatten wäre, den er stets in seinem Rücken wahrnimmt, wenn er in seinem Auto zur Arbeit fährt. Es kommt sogar soweit, dass er sich mit einem Taxi zur Arbeit fahren lässt, weil er es nicht mehr über sich bringt, in sein eigenes Auto zu steigen. Was er zunächst nur als Schatten wahrnimmt, bekommt am Ende fleischliche Gestalt, doch auch die kann nur der Teltower Bürgermeister sehen.

Journalist Gottfried Klausen wird nach London berufen und muss seine Frau widerwillig in der Dorotheenstraße zurücklassen. Sie wiederum lässt ihn in London zurück, allein mit seinen Gedanken und spätestens, als sie nicht wie geplant in Heathrow anreist und sich am Telefon seiner Frau eine Männerstimme meldet, beginnt Gottfried Klausen zu begreifen, das etwas in seiner Beziehung unwiderruflich zerbrochen ist.

Jeder kennt die Stimmung, die um einen Schlafenden entsteht. Es ist so etwas wie Fremdheit, und doch bleibt alles, wie es war: Da sind die Möbel, die, nachdem die Nachttischlampe nicht mehr brennt, ihre Schatten werfen, da ist das unverhangene Fenster, durch das genügend Licht fällt, um auch den kahlen Wänden ringsherum Konturen zu geben, und hinter dem Fenster beginnt das grenzenlose Draußen, das, da niemand es wahrnimmt, wie unerlöst, wie beziehungslos, wie eine Welt ohne Gegenüber wirkt, und selbst der Mond, der über den Dächern der Stadt aufsteigt, kann seine Schönheit nicht zur Geltung bringen. Und wenn nun der eben noch Schlafende aus irgendeinem Grund, vielleicht, weil er unbequem lag oder schlecht geträumt hatte, sich plötzlich mit einem Seufzer aufrichtet und, mit beiden Händen Halt suchend, auf der Bettkante zu sitzen kommt, dann wäre es möglich, dass sich zwei Welten, die zusammengehören, für Augenblicke nicht mehr berühren.

Auch die kurze Episode des Mannes, der eine längst verstorbene Cellistin nördlich des Griebnitzsees in einem Waldstück spielen hört, ist beeindruckend, sowie die Geschichte einer Frau, die von ihrem Mann schon lange nicht viel mehr als einen Schatten sieht. Allen Protagonisten und allen Novellen gemein ist diese leise Unbehaglichkeit, die sich auf verschiedene Weise Ausdruck verleiht. Durch das Klammern an die Vergangenheit, durch Krähenphantome oder Schatten. Mich begeistern Geschichten, die in sich diese leise Melancholie tragen, eine süße Traurigkeit, die nicht mit dem Holzhammer auf mich eindrischt, sondern die mich sanft umweht. Dazu ein gekonntes Spiel mit der Realität, Hartmut Lange versteht sein Handwerk und der gänzlich unaufgeregte, nahezu analytische Tonfall trägt sein Übriges zu einer dichten Atmosphäre bei. Sehr zu empfehlen für einen regnerischen Nachmittag, mit oder ohne Caillebotte.

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