Alle Artikel mit dem Schlagwort: hanser verlag

Mohamed Amjahid – Unter Weissen

Wer als Weißer heutzutage gebeten wird, sich seiner Privilegien bewusst zu werden, verbindet damit häufig die implizite Absicht des Gegenübers, ihm diese Privilegien entweder zum Vorwurf zu machen oder zu entreißen. Beides erzeugt eine massive Abwehrreaktion, die sich nicht selten in Beschreibungen des eigenen beschwerlichen Daseins ausdrückt. Dabei kann das Bewusstsein der eigenen Vorrechte auch nutzbringend sein, ohne, dass man sie reflexartig von sich weisen muss. Mohamed Amjahid, selbst marokkanischstämmiger Journalist bei der ZEIT, erklärt, wieso. Was soll das schon sein, der “privilegierte Weiße”? Also ICH habe keine Privilegien, ICH bekomme keine Extrawurst und mich auf meine Hautfarbe zu reduzieren – ist das nicht irgendwie unfair? Die meisten werden so reagieren, wenn man ihnen eröffnet, sie seien als Weiße privilegiert. Privilegien werden allerdings erst im Vergleich zu denen erfahrbar, die nicht in ihren Genuss kommen. Wer sich ausschließlich mit Menschen umgibt, deren Lebensrealität bis auf marginale Kleinigkeiten mit der eigenen übereinstimmt, wird sich nicht als privilegiert wahrnehmen. Mohamed Amjahid macht jedoch bereits sein Leben lang Erfahrungen, die den meisten Weißen naturgemäß erspart bleiben. Es sind …

Hanya Yanagihara – Ein wenig Leben

Auf dem Cover ein Mann, dessen ambivalente Mimik nicht auf den ersten Blick zu entschlüsseln ist, dessen Widerspruch man aushalten muss. Ist es Schmerz? Ist es Lust? Wut? Trauer? Von allem etwas vielleicht. “Ein wenig Leben” trägt in sich diesen unauflösbaren Widerspruch von Schmerz und Glück. Es ist ein Roman von besonderer Tiefe und Wahrhaftigkeit. Ich lese wie im Rausch, notiere ich nach einem Tag, an dem ich knapp 500 Seiten gelesen habe. Zwischen mich und Yanagiharas Geschichte passt kaum das Blatt Papier, auf dem sie gedruckt ist. Ich befinde mich, eingeladen vom Hanser Verlag*, in einem etwas abgelegenen Häuschen nahe Berlin. Um mich herum liegen nur wenige andere Häuser, herbstlich gefärbtes Laub, ein See. Ich soll mich zurückziehen, soll mich einzig dem Roman widmen können; so die Idee des Retreats. Regelmäßig blättere ich um, ein Automatismus wie das Schuhebinden. Ich nehme es nicht einmal wahr, obwohl es wieder und wieder geschieht, schreibe ich weiter, es ist schon Abend und mein Kopf summt wie eine Maschine, die sich nicht abschalten lässt. Ich bin versunken in …

Julia Shaw – Das trügerische Gedächtnis

Wer bislang glaubte, er könne sich, im Großen und Ganzen, auf sein Gedächtnis verlassen, den nötigt Rechtspsychologin Julia Shaw mit ihren Ausführungen zu demütiger Zurückhaltung. Unser Gedächtnis ist zwar einerseits ein biologisches Wunder, andererseits aber auch extrem stör- und fehleranfällig. Es funktioniert mitnichten wie ein linearer und dem chronologischen Ablauf verpflichteter Zettelkasten voller Erlebnisse; das Gedächtnis verfährt selektiv und rekonstruktiv. Und unter bestimmten Umständen ist es möglich, sich an Ereignisse zu erinnern, die niemals geschehen sind. Wir erleben Wahrnehmung nur deshalb als kohärenten und fließenden Prozess, weil unser Gehirn fortwährend begründete Vermutungen anstellt und damit die Informationslücken füllt. Jeder von uns kennt Menschen, die im Brustton der Überzeugung behaupten, sie könnten sich an ihre Geburt erinnern. Oder gar an die Zeit vor der Geburt, an die wohlige Geborgenheit im Bauch der Mutter. Neurowissenschaftlich gesehen ist so eine Aussage unhaltbar, so real sie sich auch anfühlen mag. Zu einem so frühen Zeitpunkt des Lebens ist das Gehirn nicht in der Lage, andauernde Erinnerungen zu produzieren. Wie können aber so viele Menschen dennoch sicher sein, sich an …

Abbas Khider im Interview!

© Peter-Andreas Hassiepen Mit seinem Roman “Ohrfeige” hat Abbas Khider gewissermaßen den Roman der Stunde geschrieben. Im Mittelpunkt der Flüchtling Karim, der von Bürokratie und deutschem Asylsystem aufgerieben dem Land den Rücken kehrt. Aber nicht, ohne zuvor mit seiner Sachbearbeiterin von der Ausländerbehörde ein ernstes Wort zu sprechen. Ich habe unterdessen mit Abbas Khider ein paar Worte über persönliche Erfahrungen, die Stimmung in Deutschland und das Gefühl von Heimat gesprochen. Abbas, sicher verfolgst du die gegenwärtigen Debatten rund um das Thema Asyl und Flüchtlinge. Wie erlebst du diese Diskussionen vor dem Hintergrund deiner eigenen Erfahrungen? Ich glaube, wir beschäftigen uns zurzeit mit falschen Inhalten. Die Menschen, die hierher kommen, brauchen Sicherheit. Das ist die erste Phase der Integration. Natürlich ist es eine wichtige Phase, aber die zweite Phase der Integration ist härter, da geht es nicht nur um Sicherheit sondern um die Zukunft. Die Zukunft der einzelnen Personen, der Asylbewerber. In dieser zweiten Phase leben diese Menschen nur in Angst. Und ihre Ängste sind unbeschreiblich, verursacht durch das bürokratische Verwaltungssystem. In der ersten Phase der …

Abbas Khider – Ohrfeige

Karim hat seine Sachbearbeiterin von der Ausländerbehörde überwältigt und geohrfeigt. Kurz vor seiner Abreise nach Finnland will er ihr von den drei Jahren in Deutschland erzählen und seinen vergeblichen Versuchen, Fuß zu fassen. Er zündet einen Joint an und genießt den Moment der Macht über die Vertreterin eines übermächtigen Systems. “Ohrfeige” erzählt von einer anderen Art der Willkommenskultur, die vor allem Ausschluss bedeutet. Abbas Khider, wie sein Protagonist Karim in Bagdad geboren, kam 2000 nach Deutschland, nachdem er als Illegaler in verschiedenen anderen Ländern, darunter Libyen und Jordanien, gelebt hatte. Wegen politischer Aktivitäten gegen das Regime war er  von 1993 bis 1995 inhaftiert, 1996 gelang ihm schließlich die Flucht aus dem Irak. Anders als Karim gelingt es ihm in Deutschland jedoch recht schnell, dem ewigen Zirkel aus Asylheimen und Gelegenheitsjobs zu entkommen. Er studiert Literatur und Philosophie in München und Potsdam, 2008 erscheint sein Debütroman ,Der falsche Inder‘. Karim weiß, als er mit zwei anderen Flüchtlingen von einem Schleuser irgendwo an einer Landstraße im Schnee abgesetzt wird, nicht einmal wo er sich befindet. Er wollte …

Saïd Sayrafiezadeh – Kurze Berührungen mit dem Feind

Schauplatz von Saïd Sayrafiezadehs Erzählungen sind die Straßen einer mittelgroßen amerikanischen Stadt. Ihre Bewohner arbeiten im Walmart, im Schnellrestaurant, im Callcenter. Sie alle sind ernüchtert, orientierungslos und an einem Punkt angekommen, an dem sie ihr bisheriges Leben in Frage stellen. Saïd Sayrafiezadehs Erzählungen gelingt ein Tonfall, der nichts beschönigt, gleichzeitig aber die kurzen Momente der Hoffnung nicht verleugnet. Packend, eindringlich und sprachlich auf hohem Niveau konfrontiert er seine Protagonisten mit Grenzen. Ihren eigenen und denen aller. Bereits 2014 erschienen, gehören diese Erzählungen vermutlich zu dem Besten, was man mit einer Vorliebe für lebensnahe, eindringliche Geschichten lesen. Sayrafiezadeh, von dem bereits 2009 der Roman “Eis essen mit Che” erschienen ist, hat ein herausragendes Gespür für Figurenzeichnung und Dialoge. In einer mittelgroßen amerikanischen Stadt unbekannten Namens nimmt er den “einfachen Mann” ins Visier seiner Erzählungen. Es sind junge Männer, deren Collegeträume langsam aber stetig an der Realität zerbrechen, die ihnen dieses Land bietet. Sie arbeiten im Supermarkt oder im Schnellrestaurant, servieren Schinken-Käse-Toast oder verkaufen am Telefon Konzerttickets. Man hat ihnen versprochen, dass sie einmal Großes leisten können, …

Jane Gardam – Ein untadeliger Mann

Was von außen zunächst unzweifelhaft aussieht wie der nostalgische Rautenpulli von Opa und an Spitzendeckchen und beherrschte Anständigkeit erinnert, entpuppt sich als gekonnter Roman eines Lebens, das von den Wechselfällen der Geschichte nicht unbeeinflusst geblieben ist. Jane Gardam ist mit ihren 86 Jahren kein junger Hüpfer mehr und außerhalb Deutschlands auch mitnichten eine Unbekannte. Schön, dass ihre Stimme nun auch hier Gehör findet. Der untadelige Mann, der bereits im Titel beschworen wird, ist Edward Feathers, genannt ,Filth’ oder ,Old Filth’, wenn man besonders ehrerbietig sein wollte. Dieser doppeldeutige Spitzname soll nicht etwa subtil auf die mangelnde Körperpflege des älteren Herrn hinweisen, es ist vielmehr ein Akronym aus ,Failed in London try Hongkong‘. Für so einige junge Anwälte, wie auch Edward Feathers einst einer war, galt dieser augenzwinkernde Ratschlag als Binsenweisheit. So natürlich auch für Edward Feathers, der in Hongkong als Anwalt für Baurecht Karriere macht, gebaut wurde nach dem Krieg schließlich allerhand. Filth blickt, als er uns vorgestellt wird, bereits auf ein bewegtes Leben zurück. Geboren in Malaya als sogenannter Raj-Waise, also als Kind eines …

Annika Reich – Die Nächte auf ihrer Seite

Wäre einem der Auftrag erteilt worden, diesem Roman von Annika Reich ein Motto voranzustellen, müsste es lauten: ,Alles ist unzulänglich’. Die Liebe, die Familie, Gesellschaften, das Leben im Allgemeinen und Besonderen. So sehr wir uns bemühen, unseren Platz zu finden, unsere Rollen auszufüllen, irgendetwas wird immer diesen leisen Misston erzeugen, den man nicht überhören kann. Ada und Farid leben getrennt. Was sie noch verbindet, ist ihre Tochter Fanny, die abwechselnd mal bei dem einen und mal bei dem anderen zu Besuch ist. Was als eine leidenschaftliche und stürmische Liebe begonnen hat, ist merklich abgekühlt, immer öfter geraten die beiden über Kleinigkeiten in Streit. Adas Wohnung liegt direkt gegenüber eines Yogazentrums und der Praxis eines Paartherapeuten. Durch den Innenhof laufen täglich Paare, die hoffen, etwas Verlorengeglaubtes mit fremder Hilfe zu retten, Zerbrochenes wieder zu kitten. In ihrem Wohnzimmer hat Ada eine Kamera platziert, die das stetige Kommen und Gehen aufzeichnet. Skurril, alltäglich, haltlos, verzweifelt – die Bandbreite menschlicher Begegnungen und Beziehungen im Innenhof ist enorm. Diese ,Reigen’, wie Annika Reich sie nennt, ziehen sich wie ein …

Jan Wagner – Regentonnenvariationen

Es war so etwas wie eine kleine Sensation, als bekanntgegeben wurde, dass der Lyriker Jan Wagner mit seinem Gedichtband für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. Niemals zuvor war ein Gedichtband gemeinsam mit anderen Belletristiktiteln – oder überhaupt – nominiert und vielleicht ist es auch schwierig, beides gegenüberzustellen. Gewiss ist aber: Die Regentonnenvariationen sind jeden Blick wert! Vielleicht ist es ein Überbleibsel aus der Schulzeit, der Gedichtform grundsätzlich erstmal kritisch gegenüberzustehen. Gequält wurde man mit dem auswendigen Repetieren verstaubter Balladen – jedenfalls empfand man es so. Gedichte eignen sich interessanterweise bedeutend häufiger dazu, pubertären Schmerz auszudrücken als sie nach der Überwindung desselben tatsächlich zu lesen. Unzählige Teenager versifizieren ihre Gefühle, mal mehr und mal weniger stilsicher, danach aber wollen die wenigsten noch etwas mit Lyrik zu tun haben. Sie hat ihre Schuldigkeit getan, sie kann gehen. Dabei eröffnet die gebundene Sprache Möglichkeiten des Ausdrucks, die ein Prosatext niemals haben wird. Nicht jedenfalls, ohne gestelzt und schwerfällig zu klingen. Lyrik ist ein Spiel mit Sprache, mit ganz verschiedenen Bedeutungsnuancen und Klangformen, Lyrik ist die freigelassene …

Alfred Hayes – In Love

“Die Liebe ist ein seltsames Spiel”, sang die Amerikanerin Connie Francis 1960 und könnte damit ohne Zweifel auch das junge Paar in Alfred Hayes ursprünglich 1953 erschienenem Roman meinen. Es ist ein Hin und Her, ein Leiden miteinander und ohne einander, ein Schweigen, wo es Worte bräuchte und zuviele Worte, wo eine Geste reichte. Melancholisch, hoffnungslos und etwas tragisch. Zuerst erschien Alfred Hayes’ Roman unter dem Titel ,Liebe lud mich ein’, was für den vielversprechenden Anfang der im Buch beschriebenen Liebesbeziehung wahrscheinlich eine schöne Überschrift ist. Ein Mann in seinen Dreißigern lernt eine junge Frau kennen, zweiundzwanzig, bereits geschieden und Mutter. Hals über Kopf ist sie ins Leben gestürzt und nun wieder allein. Eine starke Anziehungskraft führt beide zusammen, sie werden ein Paar ohne konkrete Absichten und Ziele. Sie lieben sich (glauben sie), sind glücklich (hoffen sie) und lassen den ganzen Rest einfach auf sich zukommen. Sie ist ein bisschen spleenig, sprunghaft und ängstlich und bewahrt zu ihrem Schutz einen Füller mit Tränengas in ihrer Wohnung auf, er erdet gelegentlich ihr etwas überspanntes Gemüt. Über …