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Hanya Yanagihara – Ein wenig Leben

Auf dem Cover ein Mann, dessen ambivalente Mimik nicht auf den ersten Blick zu entschlüsseln ist, dessen Widerspruch man aushalten muss. Ist es Schmerz? Ist es Lust? Wut? Trauer? Von allem etwas vielleicht. “Ein wenig Leben” trägt in sich diesen unauflösbaren Widerspruch von Schmerz und Glück. Es ist ein Roman von besonderer Tiefe und Wahrhaftigkeit.

Ich lese wie im Rausch, notiere ich nach einem Tag, an dem ich knapp 500 Seiten gelesen habe. Zwischen mich und Yanagiharas Geschichte passt kaum das Blatt Papier, auf dem sie gedruckt ist. Ich befinde mich, eingeladen vom Hanser Verlag*, in einem etwas abgelegenen Häuschen nahe Berlin. Um mich herum liegen nur wenige andere Häuser, herbstlich gefärbtes Laub, ein See. Ich soll mich zurückziehen, soll mich einzig dem Roman widmen können; so die Idee des Retreats. Regelmäßig blättere ich um, ein Automatismus wie das Schuhebinden. Ich nehme es nicht einmal wahr, obwohl es wieder und wieder geschieht, schreibe ich weiter, es ist schon Abend und mein Kopf summt wie eine Maschine, die sich nicht abschalten lässt. Ich bin versunken in einer Geschichte, die sehr viel und gleichzeitig überhaupt nichts mit mir zu tun hat. Versunken in ihrem Morast und in ihrer Fülle, in ihrem Überschwang, der sich mühelos mit Kitsch und Pathos verwechseln lässt. Dem Roman ist egal, womit er verwechselt werden könnte; er greift um sich, reckt seine Dendriten gen Leser, um eine Verbindung mit ihm herzustellen. Zwischen dem Roman und mir entsteht eine ambivalente Beziehung, ein literarisches Stockholm-Syndrom. Obwohl ich gequält und gemartert werde, entführt wurde, empfinde ich Zuneigung und Glück. Unter anderem.

Schon im Voraus vernehme ich Lobeshymnen. Blättere im Gästebuch, das der Verlag auf dem Esstisch zurückgelassen hat. Nicht wenige, sagt man mir, hätten nach der Lektüre das Bedürfnis, darüber ins Gespräch zu kommen. Nicht nur ins fachsimpelnde, sondern auch ins intime, persönliche, offenbarende. Während ich das höre, frage ich mich immer wieder: Kann das einem Buch wirklich gelingen? Kann es Barrieren durchlässiger machen, einander sonst nur lose in Kontakt Stehenden Geständnisse abringen? Oder doch alles bloß Marketing? Diese beinahe einhellige, grundfestenerschütternde Begeisterung? Ich beginne zu lesen, ohne viel von dem Roman zu wissen. Ich habe bewusst darauf verzichtet, mich im Vorhinein zu informieren. Ich will mich nicht beeinflussen, meine Lesart nicht schon durch andere Lesarten färben lassen. Im Mittelpunkt stehen die Freunde Jude, ein ambitionierter Jurastudent, Willem, ein angehender Schauspieler, JB, ein Künstler und Malcolm, ein Architekt. Sie bilden eine eingeschworene Gemeinschaft über Jahre hinweg, ihre Freundschaft ist außergewöhnlich eng. Und doch wissen sie nicht alles voneinander. Der charismatische und zurückhaltende Jude birgt ein Geheimnis in sich, von dem seine Freunde nichts wissen. Es ist eines der existentiellen Art, ein lebensbestimmendes, ein zerrüttendes. Die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens haben ihn ge- und verformt gleichermaßen. Und so aufmerksam, liebenswürdig und unaufdringlich er anderen gegenüber ist, so unnachgiebig, hasserfüllt und voller Zweifel ist er im Umgang mit sich selbst. Schnell wird klar, dass Jude und seine Geschichte im Mittelpunkt des 960 Seiten starken Romans stehen. Der Roman ist ein Potpourri aus Lebensgeschichten und -wegen, die um Jude als Zentrum kreisen. Nicht, dass die anderen Figuren bloß Erfüllungsgehilfen einer einzigen Lebensgeschichte wären; sie sind selbst so lebendig und fein konturiert auf eine Art, die mich mitunter vergessen lässt, dass sie nicht existieren.

Wahrhaftig ist das, was ich lese. Immer wieder fällt mir das ein. Unverfälscht, ehrlich, erdrückend im Guten wie im Schlechten. Wahrhaftig ist, überlege ich, während ich mich davor hüte, meine Etiketten zu leichtfertig auszuwählen, was Grundlegendes über das Menschsein, seine Bedingtheit, seine Unvollkommenheit und Versehrtheit erzählen kann. Wahrhaftig ist, was sich über seine Fiktionalität erhebt; was aufhört, erdachte Geschichte zu sein und beginnt, sich in etwas Fassbares zu verwandeln, das tiefgreifende, existentielle Wahrheit enthüllt, die nicht mehr nur für einen einzigen gilt, sondern für viele. Wir alle kennen Schmerz. Judes Schmerz ist einer, der sich aus erlittener Gewalt speist. Gewalt nicht nur, die andere gegen ihn ausgeübt haben, sondern die er auch gegen sich selbst ausübt. Zahlreiche Narben zeugen davon. Es ist, wie ich für einen kurzen Augenblick denke, endlich ein Buch, das sich wagt, das Phänomen der Selbstverletzung ernsthaft zu thematisieren. Das sich traut, einen traumatisierten Mann zum Betroffenen zu machen statt eines vierzehnjährigen Mädchens, das sich Aufmerksamkeit wünscht. Schwer zu ertragen bleibt es dennoch, der Selbsthass, die Hilflosigkeit derer, die Judes Zirkelbewegungen mitvollziehen müssen, die Ohnmacht. Yanagihara hätte die Geschichte schneller erzählen, hätte Jude einsichtiger zeichnen, das Geheimnis seiner grässlichen Vergangenheit schneller lüften können. Man hätte Jude therapeutisch behandeln und gesunden lassen können. Alles auf 400 Seiten sogar. Aber so ist das Leben nicht. Es ist gekennzeichnet von Rückschlägen, Verweigerungen, schadhaften Mechanismen. Yanagihara würdigt sie, stellt sie dar, wie sie eben sind. Das führt unweigerlich zu Wiederholungen, Redundanzen, nachgerade zu einer gewissen Renitenz Judes. Aber auch zu der Frage: Wie viel Leben können wir einem anderen in gutem Glauben aufzwingen? Ein wenig Leben nur?

Es ist leicht, heißt es, den Roman zu kritisieren. Ich schreibe an diesem zweiten Abend: Man kann das alles grell finden. Die selbstgenügsame Destruktivität des Versehrten, dessen Geschichte der Roman nach und nach behutsam enthüllt, aber auch die Hingabe der Verstrickten. Wem, kann man fragen, widerfährt schon so viel Bösartigkeit? Wer hat über Jahre hinweg das Glück, Menschen um sich zu haben, die wie Felsen in der Brandung den unvermeidlichen Untergang verhindern? Die sogar nach dem Untergang noch das Wrack heben, um ihm zu neuem Leben zu verhelfen? Vielleicht ist der Roman an manchen Stellen das wahre Leben und an anderen darf er eben auch Roman sein, Fiktion, Konstruktion. Eine, die nicht zurückscheut vor großen Gefühlen und Fragen. Heute womöglich etwas Besonderes. Literarisch en vogue ist auch das bewusst Kaltschnäuzige, Desinteressierte, Fatalistische und Gelangweilte. Eine leicht identifizierbare Form der Zivilisationsmüdigkeit, sowas wie Simmels “Blasiertheit”. Yanagihara beweist aber, dass die Verweigerung dieser Abstumpfung nicht unerträglichen Kitsch produzieren muss. Viel von seiner Wahrhaftigkeit, tippe ich, während auf dem Fernseher vor mir unbemerkt etwas über den Bildschirm flimmert,  bezieht der Roman, neben seiner Intimität, aus eben dieser soliden, zurückgenommenen und doch so treffsicheren Sprache, die zielsicher Plattitüden umschifft. Es geht zwar um große Gefühle, doch die liegen sehr oft in kleinen Situationen, in kaum wahrnehmbaren Gesten, in wenigen Worten. Tatsächlich berührend ist viel öfter das, was ohne ausholende Gesten auskommt, ohne bedeutungsschwangere Allgemeinplätze. Das Große mit kleiner Geste zu transportieren, ist eine Leistung. Diesen Roman zu lesen, auch. Er verlangt viel und gibt es zurück. Ich möchte am Ende nichts gestehen, nicht öffentlich. Vielleicht bloß, dass Ein wenig Leben eine der intensivsten Leseerfahrungen war, an die ich mich erinnern kann. Es ist ein umwerfend verwegener Roman über Freundschaft, Liebe, Schmerz und Gewalt. Man möchte fast sagen: ein großer amerikanischer Roman, der sich nicht im Geringsten so liest, wie man einen großen amerikanischen Roman erwartet.

*Offenlegung: Vom 27.11.-30.11.2016 war ich auf Kosten des Hanser Verlages allein in einem Haus unweit von Berlin untergebracht, um Yanagiharas Roman zu lesen. Meine Beurteilung des Romans ist davon unbeeinflusst geblieben.

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner. Hanser Verlag. 960 Seiten. 28 €.

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