Alle Artikel mit dem Schlagwort: edition nautilus

Emma Glass – Peach

Es gibt Bücher, nach denen man sich selbst versehrt fühlt. Wie eine klaffende, pulsierende Wunde. Verstört. Mitgerissen von einem unaussprechlichen Unglück. Dieses ist so eins. Emma Glass hat mit Peach einen Debütroman geschrieben, der sämtliche Schmerzgrenzen überschreitet in seiner Kompromisslosigkeit. Ein surrealer Trip voller Gewalt und der klägliche Versuch, sich ihrer Spuren zu entledigen. Nichts für zarte Gemüter, nichts für schwache Nerven. Schon die ersten Sätze von Peach lassen erahnen, dass hier nicht konventionell und glatt erzählt wird. Viel eher liest sich der erste Absatz wie eine ins Stocken geratene Maschine, atemlos, ein schmerzerfülltes Stakkato voller Alliterationen und Assonanzen. Man strauchelt. Irgendetwas ist mit Peach geschehen. Sie ist ein junges Mädchen, ihre Knöchel sind aufgeschürft, sie spürt Schmerzen und Blut zwischen ihren Beinen, ihr Körper summt wie unter Strom. Irgendwie stolpert sie nach Hause, ihre Eltern bemerken nichts. Sie sind anzüglich, körperlich wie Teenager, die einander keine Sekunde unberührt lassen können. Gerade ist ein Baby geboren worden. Es heißt Baby. Und es ist süß, im wahrsten Sinne des Wortes. Mehrfach im Roman wird es wortwörtlich …

Laurie Penny – Bitch Doktrin

In den letzten Jahren hat sich Laurie Penny als Stimme des modernen, zeitgenössischen Feminismus einen Namen gemacht. Rotzig und auf den Punkt prangert Penny Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Bequemlichkeit an. Gleichwohl sind es nicht allein feministische Themen, die sie umtreiben. In ihren Essays geht es um Politik, Gewalt, Hass und eine bessere Welt. In »Bitch Doktrin« räumt sie  auf mit missverstandenen Privilegien und der Angst vor Vielfalt und Veränderung. Vor einiger Zeit kursierte in sozialen Medien der Spruch: »Equal rights for others does not mean less rights for you. It’s not pie.« Logisch eigentlich. Und trotzdem erfahren jene, die sich für die Rechte derer einsetzen, die nicht die Mehrheit der Gesellschaft repräsentieren, noch immer scharfen Gegenwind, Hass, zügellose Wut. So auch Laurie Penny. Wut worauf? Man weiß es nicht genau. Vielleicht ist es eine Wut, die sich aus der Angst vor Veränderung speist, aus dem Widerwillen, den Status Quo zu verlassen. Vielleicht ist es die Sorge, etwas abgeben zu müssen. Aber gleiche Rechte und Kuchen, naja, siehe oben. Wie man hört, glauben viele ansonsten anständige Leute, …

Utopien für Hand und Kopf

Brauchen wir eigentlich Utopien? “Utopisch” wird gemeinhin das genannt, was unerreichbar erscheint, überambitioniert, versponnen. Der Duden gibt als Synonyme Worte wie Kopfgeburt und Luftschloss an. Also eher etwas für die Träumer, die lieber in ihren Visionen schwelgen statt realistische Maßnahmen anzustoßen. Tatsächlich erfüllt die Utopie aber einen sinnvollen Zweck in ihrer wagemutigen, manchmal vielleicht auch naiven Vorstellung der Zukunft. Mit den Utopien für Hand und Kopf bringt die Hamburger Edition Nautilus eine neue Reihe auf den Weg. Im Mittelpunkt stehen Texte, die eine bessere Welt zu denken wagen und sich damit bewusst gegen herrschende Interpretationsrahmen auflehnen. Sie denken die Welt weiter, erwägen die Möglichkeit der Veränderung und Entwicklung, statt bloß der Wahrung des Status Quo. Auch wenn es nach dem Diktum mancher kein Zeichen geistiger Gesundheit ist, Visionen zu haben, kann es für eine Vorwärtsentwicklung hilfreich sein, abseits ausgetretener Pfade zu denken, outside the box, sozusagen. Aus einer anderen Perspektive auf die Dinge zu schauen, vielleicht auch mit einer gewissen kindlichen Naivität und Offenheit, eröffnet manchmal Wege, wo zuvor keine waren. Das Design der Nautilus-Reihe …

Marie Malcovati – Nach allem was ich beinahe für dich getan hätte

Auf einer Bank vor dem Basler Bahnhof treffen zufällig Lucy und Simon aufeinander. Sie entkräftet und orientierungslos, er ausnüchternd in römischer Legionärskluft. Während das Leben in Form von zielstrebigen Reisenden an ihnen vorbeiströmt, hat es sie herauskatapultiert aus dem nimmermüden Lauf der Dinge. Unsichtbar hinter einigen Überwachungskameras der Kantonspolizei Basel-Stadt sitzt der Beamte Beat Marotti und beobachtet die beiden. Zunächst noch aus Pflichtgefühl, dann aus ganz persönlicher Notwendigkeit. Eigentlich ist Marotti krankgeschrieben. Er hat sich mit kochendem Wasser verbrüht und seine Frau hat ihn verlassen. Dennoch – oder vielleicht auch: deswegen – tut er hinter den polizeilichen Überwachungskameras Dienst, ein reiner Fluchtreflex. Es hat eine Terrorwarnung gegeben und er soll den Bahnhofsbereich auf verdächtige Personen untersuchen. Zu seiner Entäuschung bleibt es ruhig. Nur eine Frau fällt ihm auf, die regungs- und scheinbar ziellos auf einer Bank sitzt und das Wandgemälde eines Alpenpanoramas anstarrt. Sie sieht nicht aus als warte sie auf jemanden oder etwas, vielmehr bringt sie Stunden ohne nennenswerte Lebenszeichen an ein und demselben Ort zu. Zu ihr setzt sich nach einiger Zeit ein …

Laurie Penny – Babys machen

Laurie Penny gilt, spätestens seit “Unsagbare Dinge” und “Fleischmarkt” als starke feministische Stimme unserer Zeit. In ihrem jünst erschienenen Erzählband führt sie auf so bitterböse wie treffsichere Art Klischees und Rollenbilder vor, indem sie sie gnadenlos überzeichnet. Eine Frau, die sich selbst ein Baby konstruiert? Mord als Kunst? Industrielle Produktion von Katzenvideos? Alles ist möglich! Wie wäre es, wenn ich mein Baby tatsächlich nach meinen Wünschen gestalten könnte? Nicht nur, indem ich aus einem Katalog auswähle, nein. Selbst ist die Frau! Mittels praktischer Ingenieursfähigkeiten könnte jede Frau in der Garage ihr Baby zusammenschrauben wie die neuen dekorativen Wohnzimmermöbel. Es sähe einem echten Baby täuschend echt und verhielte sich auch so. Bloß verletzen könnte es sich nicht. Und man könnte es abschalten – in intimen Momenten. Die Titelgeschichte “Babys machen” entwirft mit einiger Ironie ein solches Szenario, unter dem der Vater weit mehr leidet als die Mutter. Eigentlich ist er kaum imstande, diese winzige Menschmaschine als sein Kind zu betrachten. Welche Ansprüche stellen Mütter an sich und welche an ihre Kinder? Wie durchgestylt und geplant darf …

Gail Jones – Ein Samstag in Sydney

Gail Jones ist eine australische Autorin. Sie lehrt als Professorin für Kreatives Schreiben an der University of Western Sydney. Bisher veröffentlichte sie zwei Erzählbände und fünf Romane. Ihr zweiter Roman ,Sechzig Lichter‘ war 2004 für den Booker Prize nominiert. ,Ein Samstag in Sydney‘ schrieb sie als Stadtschreiber-Stipendiatin in Shanghai. Es erschien im August letzten Jahres bei der Edition Nautilus, in der Übersetzung von Conny Lösch. Sie ging los. Mit ihrem Sonnenhut aus Baumwolle, ihrem kleinen Rucksack und diesem unerwarteten Pochen in der Brust trat Ellie hinaus in den lieben langen Tagin Sydney. Sonnenschein wirbelte um sie herum. Der Hafen funkelte fast. Sie hob ihr Gesicht zum Himmel und lächelte in sich hinein. Es kam ihr vor als würde sie – ja, doch, ja – Licht atmen. Nicht nur Ellie tritt in diesem lichtdurchfluteten Morgen auf die Straßen einer langsam erwachenden Metropole. Auch James kommt an, verbittert und übernächtigt und mit Schuldgefühlen, die er in Alkohol ertränkt. Ellie und er kannten sich einst sehr gut, sie waren junge Verliebte, Schulkameraden, Freunde. Nun wollen sie sich wiedersehen, …

[LiteraTour Nord] Abbas Khider – Brief in die Auberginenrepublik

Am gestrigen Montagabend startete in Lübeck die 22. LiteraTour Nord. Den Anfang machte dieses Jahr der deutsch-irakische Autor Abbas Khider, der aus seinem aktuellen Roman “Brief in die Auberginenrepublik” (Edition Nautilus) las. 1973 in Bagdad geboren, wurde er mit 19 Jahren aufgrund politischer Aktivitäten unter dem Regime Saddam Husseins inhaftiert, von 1993 bis 1995 saß er im Gefängnis, in dem er auch Folter mit Elektroschocks erlebte. 1996 kam er zwar frei, flüchtete aber aus dem Irak und war als illegaler Flüchtling mehrere Jahre in Libyen und Jordanien “zuhause”. Sofern auf der Flucht und in ständiger Angst vor Entdeckung überhaupt ein Gefühl von Heimat entstehen kann. Im Jahr 2000 wurde ihm in Deutschland Asyl gewährt und er begann in München Philosophie und Literaturwissenschaft zu studieren, sich einzufinden in ein Land, das zunächst, so Khider, eher als Durchgangsstation auf dem Weg zurück in den Irak dienen sollte. In “Brief in die Auberginenrepublik” erzählt Khider von einem Brief, den der Protagonist und Exilant Salim seiner ehemaligen Geliebten Samia schreibt. Er lebt illegal als Flüchtling im lybischen Bengasi, sie …