Alle Artikel mit dem Schlagwort: c.h. beck

Anthony Doerr – Memory Wall

Erinnerung ist nicht linear. Und sich zu erinnern, bedeutet nicht, einen Film chronologisch vor sich ablaufen zu sehen.  Oder ihn jederzeit bei Bedarf abrufen zu können. Erinnern ist eng an Kontexte und Emotionen geknüpft. Lösen die sich auf, verblassen auch Erinnerungen. So ergeht es der 74-jährigen Alma Konachek, die sich ihr vergangenes Leben nur noch mittels spezieller Kassetten ins Gedächtnis rufen kann. Wer wir sind, wird wesentlich von dem beeinflusst, was wir erlebt haben und wie wir uns daran erinnern. Indem wir Erfahrungen sammeln, orientieren wir uns in einer komplexen Umwelt und erleichtern uns Entscheidungen. Wir erlangen Routine und verdanken es unserer Erinnerung, dass wir nicht jeden Tag auf’s Neue überlegen müssen, wie man ein Messer benutzt oder einen Fahrplan liest. Umso beängstigender ist der Zustand, in dem sämtliche Erinnerungen, ob sie nun persönliche Erlebnisse oder die Bewältigung des Alltags betreffen, in Auflösung begriffen sind. Alma Konachek ist dement und besucht mit ihrem langjährigen Pfleger Pheko regelmäßig eine medizinische Einrichtung, die sich gut auf das Konservieren von Erinnerung versteht. Durch eine Operation wurden ihr vier …

Zora del Buono – Gotthard

Fritz Bergundthal, ein Junggeselle in seinen Fünfzigern, reist von Berlin ins Tessin, um dort Fotos von Lokomotiven zu machen. Als Eisenbahnkundiger sieht er sich zuhause oft alte Bilder und Videoaufnahmen an, fachsimpelt mit einem Freund. Er weiß eine Menge über Unglücke und Todesfälle, – das Unglück allerdings, das sich an einem einzigen Tag nahe der Bauarbeiten des Gotthardbasistunnels abspielt, hat er nicht kommen sehen. Bergundthal ist auf dem Campingplatz nahe der Baustelle untergebracht. Er liebt Zahlen, wobei er die runden den eckigen vorzieht. In Berlin geht er seit längerer Zeit in den Italienischkurs an der Volkshochschule, von Beruf ist er Steuerfachmann. Der ist es letztlich auch, der in großem Maße dazu beiträgt, dass er von der Ehe nicht besonders viel hält. Viel mehr als die Finanzen bekümmern ihn oft genug die kleinen Geheimnisse zwischen den Eheleuten, vermeintliche Geschäftsreisen und andere verdächtige Ausgaben, die ihm die Buchführung offenbart. Er weiß, wie sie sich belügen und betrügen, er weiß, dass wohlwollende Liebe nicht selten in ihr Gegenteil umschlägt. Auch deshalb hält sich Bergundthal mehr an berechenbare Maschinen, …

Sandra Gugic – Astronauten

Es ist ein drückend heißer Sommer, in dem sich ihre Wege kreuzen. Sie alle, ob jung oder alt, haben die ausgetretenen Lebenspfade der Allgemeinheit verlassen. Sie alle schweben etwas ziellos im Orbit, außerhalb der Umlaufbahn. Sandra Gugics Debütroman erzählt von einsamen Existenzen. Von der Suche nach sich selbst in einem Raum ohne Halt. Sie heißen Zeno, Mara und Darko. Niko, Alen und Alex. Zeno, einmal Wortführer und guter Freund von Darko, ist nun allein unterwegs, ohne familiären Rückhalt. Seit er sich zurückerinnern kann, steht zuhause im Zimmer des Vaters ein fast vollständig gepackter Koffer als kompromisslose Drohgebärde. Wenn du Mist baust, fliegst du raus, ohne Wenn, Aber und Ausnahme. Zeno hält große Stücke auf Darko, der mit ihm nach seiner Ankunft im Land die Sprache gelernt hat. Der Geduld mit ihm hatte. Der ihm zugehört hat, wo andere das längst schon nicht mehr taten. Denn Zeno ist kompliziert, eigensinnig, schwer zu kontrollieren. Das ist auch in diesem Sommer nicht anders. Wann war ich das letzte Mal spazieren? Früher habe ich das gern gemacht, kreuz und …

Manuel Niedermeier – Durch frühen Morgennebel

Zwei junge Männer lernen sich an Bord eines Forschungsschiffes kennen. Der eine Fotograf, der andere Biologe. Der eine unter allen Umständen in seine Fotografie vernarrt, der andere stetig taumelnd am Rande eines Abgrunds. Es ist ein eisschollenhaftes Treiben durch die Nordostpassage, geradewegs in die Katastrophe hinein, die das Zentrum dieses Debütromans bildet. Ein Bild ist der Aggregatwechsel eines Moments. Clemens ist Fotograf. Gemeinsam mit Meteorologen, Biologen und Seeleuten ist er auf dem Weg nach Wrangler Island, einer kleinen Insel im Arktischen Ozean, nahe Sibirien. Er will fotografieren, den Moment herauslösen aus der fließenden Zeit, ihn konservieren und retten vor der Vergänglichkeit. An Bord trifft er auf John, einen Biologen, der sich studienbedingt mit dem Kommunikationsverhalten von Belugawalen beschäftigt. Die Population soll vor Wrangler Island besonders hoch sein, deshalb nimmt er an dieser sechsmonatigen Expedition teil. Schnell bemerkt Clemens die Instabilität seines Kabinengenossen. Er schläft nur wenige Stunden in der Nacht, wälzt sich im Bett herum, spricht im Schlaf in fremder Sprache, schreckt schreiend hoch. Rollender Seegang beizte das Polarmeer grau. Kein Unterschied mehr zwischen Himmel …

Thomas Klugkist – Hanna und Sebastian

Thomas Klugkist ist ein deutscher Autor. 1965 in Lübeck geboren, schrieb er seine Dissertation über Thomas Manns ,Doktor Faustus’ und veröffentlichte den Essayband ,49 Fragen und Antworten zu Thomas Mann’. Er war Ressortleiter und stellvertretender Chefredakteur im Rundfunk und lebt heute als freier Autor und Unternehmer im kulturellen Bereich in Berlin. ,Hanna und Sebastian‘ ist sein Romandebüt und erscheint im Verlag C.H. Beck. Das Briefeschreiben hat sich im Zeitalter der SMS und E-Mails, der Facebookposts und What’s App Nachrichten zu einer romantischen Tätigkeit entwickelt, zu einer Reminiszenz an vergangene Zeiten, in denen man angesichts besonders schönen Briefpapiers oder eben des lang ersehnten Briefes an sich in Verzückung geraten konnte. Thomas Klugkist schreibt mit ,Hanna und Sebastian’ sowas wie einen modernen Briefroman, der zwar manches Mal ein bisschen die Bodenhaftung zu verlieren droht, insgesamt aber von einer Beziehung zweier Menschen zeugt, wie jeder sie sich wünscht. Ideell und gedanklich über räumliche Grenzen hinweg spürbar. Was meinst du? War es denn nicht das, was die Tage so reich, so frei gemacht hat, dass wir uns, von den …

Hans Pleschinski – Königsallee

Hans Pleschinski ist ein deutscher Autor. Er studierte Germanistik, Romanistik und Theaterwissenschaft in München. Seit 1985 arbeitet er für den Bayrischen Rundfunk. Er ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. Sein letzter Roman “Ludwigshöhe” erschien 2008. Es ist 1954 in Düsseldorf. Die Stadt bereitet sich mit geschäftigem Treiben auf die Ankunft eines Nobelpreisträgers vor. Eines Mannes, der im Nachkriegsdeutschland durchaus unterschiedlich beliebt und bewundert ist, ein Mann, dessen Heiligenschein zwar noch immer intakt, doch marginal verrutscht ist. Thomas Mann. Der neunundsiebzigjährige wird von seiner Frau Katia und seiner Tochter Erika begleitet. Leicht erkältet ist er und etwas mitgenommen von der Reise. Der Gast galt als einer der empfindlichsten. Weltweit.Die Berühmtheit, so hieß es, gerate in fiebrige Alpdrücke, müsse zu Unmengen von Schlafpulver greifen, wenn der federleichte, wichtige Schlummer auch nur angehaucht würde. Doch die Direktion hatte für den eminenten Aufenthalt, denn anders konnte man es nicht nennen, weder Kosten noch Mühen gescheut. Die Doppelfenster waren renoviert und gegen mögliches Tröpfeln die Wasserhahndichtungen ausgetauscht worden. Ein Verwaltungsangestellter hatte in der Präsidentensuite sogar probegeschlafen und nicht das leiseste Quietschen …

Navid Kermani – Ausnahmezustand

Navid Kermani ist ein deutschsprachiger Schriftsteller und studierter Orientalist. Als Sohn iranischer Eltern studierte er Theaterwissenschaft, Philosophie und Orientalistik in Köln, Kairo und Bonn. Von 2006 bis 2009 war Kermani Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. 2011 wurde er für seine politischen und religionswissenschaftlichen Analysen mit dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet, außerdem im selben Jahr mit Dein Name für den Deutschen Buchpreis nominiert. Seit Jahren setzt sich Navid Kermani gegen Engstirnigkeit, gegen Vorurteile, gegen Verblendung religiöser, aber auch ganz weltlicher Art ein, gegen eine zunehmende Abkehr von religiösen Inhalten in der westlichen Welt. Wo Religion und Spiritualität hier überdauert haben, sind sie häufig fundamentalistisch und dogmatisch – auch in Europa, wo rund um den Vatikan noch immer Exorzisten praktizieren – oder aber ins Esoterische abgedriftet. Mit Tarotkarten, Runen und Pendeln zum eigenen Ich und wieder zurück. In den Ländern, die Kermani für seine Reportagen besucht hat, hat Religion noch einen ganz anderen Stellenwert, einen existentiellen. Schon seit Jahren fährt er im Auftrag zahlreicher Zeitungen (darunter die NZZ, die Süddeutsche oder Die Zeit) in Länder und Regionen, die heute vermutlich …

Alix Ohlin – In einer anderen Haut

Alix Ohlin ist eine amerikanische Autorin. Sie studierte an der Harvard University und an Michener Center for Writers in Texas. Sie erhielt bereits mehrere Stipendien und Preise und unterrichtet Kreatives Schreiben in Pennsylvania. Ein Exemplar dieses Buches wurde mir freundlicherweise von BloggdeinBuch und dem C.H. Beck Verlag zur Verfügung gestellt. In einer anderen Haut erzählt die Geschichte dreier Menschen, die, überwiegend begründet durch ihren Wunsch, anderen zu helfen, die Kontrolle über ihr eigenes Leben verlieren. Jeder von uns ist vermutlich schon einmal bei dem Versuch, andere zu unterstützen, an seine Grenzen gestoßen oder über sie hinausgegangen. So auch die drei Protagonisten Ohlins Geschichte – Grace, Mitch und Anne. Grace ist Therapeutin und stößt beim Skilaufen auf einen Mann, der offensichtlich versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Sie ruft einen Notarzt, begleitet den Fremden ins Krankenhaus und taucht nach dessen Entlassung plötzlich unentwegt bei ihm zuhause auf, obwohl der sie mehrfach abweist. Grace wird sich bewusst, dass ihre therapeutischen Ambitionen wesentlich geringer sind als ihre menschliche Faszination für diesen abgründigen Charakter, lässt aber dennoch nicht …

Jonas Lüscher – Frühling der Barbaren

Jonas Lüscher ist ein schweizerischer Schriftsteller. Er machte eine Ausbildung zum Primarschullehrer in Bern und studierte an der Hochschule für Philosophie in München. Heute arbeitet er als Doktorand am Lehrstuhl für Philosophie an der ETH Zürich. Frühling der Barbaren ist sein Debüt; eine Novelle. Dieses schmale Büchlein war für mich stilistisch und inhaltlich eine durch und durch positive Überraschung. Von außen vermutet man gar nicht, was alles in ihm steckt, – für mich eine Perle, die sich zu lesen lohnt! Schon mit der Erzählperspektive beginnt es, die Lüscher sehr geschickt konstruiert. Im Grunde gibt es zwei Erzähler, den alternden Preising, ein Schweizer Unternehmer, um dessen kleine Geschichte es geht und seinen Zuhörer, der in der Ich-Form über den Spaziergang mit Preising berichtet. Dieser kleine Kniff lässt eine fast filmische Atmosphäre entstehen, die mich vom ersten Satz an sofort in die Geschichte gezogen hat. “Nein”, sagte Preising, “du stellst die falschen Fragen”, und um seinem Einwand Nachdruck zu verleihen, blieb er mitten auf dem Kiesweg stehen. Eine Angewohnheit, die ich nicht ausstehen konnte, denn dergestalt glichen …