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Neil Gaiman – Der Ozean am Ende der Straße

Das Erwachsenwerden ist ein schmerzhafter Prozess. Manchmal hinterlässt er nur ein gefräßiges Loch im Inneren, das nach immer mehr verlangt. Manchmal weiß man einfach zuviel und sehnt sich zurück in eine Zeit, in der der Teich hinter’m Haus ein Ozean war. Neil Gaimans neuer Roman ist eine schaurig-schöne Reminiszenz an die Kindheit.

Ein Mann besucht anlässlich der Beerdigung seines Vaters seinen Heimatort. Er ist lange nicht dort gewesen, doch noch immer erinnert er sich an das Haus am Ende der staubigen Landstraße. Es ist das Haus von Lettie Hempstock, dem elfjährigen Mädchen, das in seiner Kindheit eine so prägende Rolle spielte. Lettie wohnte dort gemeinsam mit ihrer Mutter und Großmutter – und war stets etwas eigenwillig. Trotz ihres jungen Alters wirkte sie immer als sei sie schon unermesslich alt. Ganz zu schweigen davon, dass sie immer behauptete, der Teich im Garten sei eigentlich ein Ozean. Wie fremdbestimmt zieht es den Mann wieder zu Lettie Hempstocks Haus und damit in eine ferne Vergangenheit.

Ich sah die Erde, auf der ich mich seit meiner Geburt aufgehalten hatte, und ich begriff, wie zerbrechlich sie war – die Realität, die ich kannte, war eine dünne Glasur auf einem Geburtstagskuchen, in dem es vor Maden und Alpträumen und Hunger nur so wimmelte.

Es waren seltsame Zeiten. Zum siebten Geburtstag des Protagonisten mag sich partout niemand zur Feier einfinden, kurz danach taucht ein Opalschürfer auf, ein seltsamer Kerl, der durch einen Unfall die Hauskatze überfährt und sich kurz darauf selbst tötet. In dieser Situation trifft er zum ersten Mal auf Lettie Hempstock und ist sofort froh, scheinbar trotz des Altersunterschiedes eine Freundin gefunden zu haben. Diese Freundin jedoch führt ihn weit hinter die elterliche Farm in einen gespenstischen Wald, der das Portal zu einer anderen Welt zu sein scheint. Dort lauert ein riesiges Ungetüm, das Lettie zwar tapfer bezähmen kann – doch etwas bleibt im Protagonisten zurück. Etwas, das ihm kurz darauf eine echte Münze in den Mund legt, an der er fast erstickt. Etwas, das ihm Ursula Monkton ins Haus schickt – das vermutlich grausamste und herzloseste Kindermädchen seit Fräulein Rottenmeyer.

“Ich erzähle dir jetzt etwas Wichtiges. Erwachsene sehen im Inneren auch nicht wie Erwachsene aus. Äußerlich sind sie groß und gedankenlos, und sie wissen immer, was sie tun. Im Inneren sehen sie allerdings aus wie früher.”

All das hängt auf grausame Weise zusammen und führt sehr verlässlich zur Katastrophe. Neil Gaiman erzählt mit diesem Roman eine übersinnliche, eine eigentlich ziemlich gruselige Geschichte, die rasch an Spannung gewinnt. Was ganz normal und wenig abseitig beginnt, mausert sich schließlich zu einem Buch voller Unerklärlichkeiten und Monstern verschiedenster Couleur. Es geht um Freundschaft, um Vertrauen und auf sehr metaphorische Weise eben auch um das Erwachsenwerden, das vielen Kindern ganz unmöglich erscheint. Neil Gaiman ist bekannt und beliebt für seine bildhaften Geschichten, die sich nicht auf den ersten Moment erschließen – und das müssen sie auch nicht. Haben wir nicht alle als Kinder von Monstern, Hexen und Zauberern gelesen? Vom Unerklärlichen, das die Kindheit ausmacht? Ein bisschen so komponiert auch Neil Gaiman seinen neuen Roman. Wer sich hineinstürzen will in ein ganz besonderes Abenteuer, der sollte zu ,Der Ozean am Ende der Straße‘ greifen. Eine Gänsehautgeschichte für Erwachsene!

Außerdem bemerkenswert: Die wunderbaren Illustrationen von Jürgen Speh, die die Stimmung des Romans zeichnerisch einfangen!

Neil Gaiman: Der Ozean am Ende der Straße, aus dem Englischen von Hannes Riffel, mit Illustrationen von Jürgen Speh, eichborn Verlag, 240 Seiten, 9783847905790, 18,00 €

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