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Joël Dicker – Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

joeldickerJoël Dicker ist ein Schweizer Schriftsteller. Der Sohn einer Buchhändlerin und eines Lehrers führte sieben Jahre lang seine eigene Zeitschrift, wurde für sein umweltpolitisches Engagement ausgezeichnet und studierte sowohl Schauspiel als auch Jura. La Vérité sur l’affaire Harry Quebert erschien 2012 im Original und gewann zahlreiche Preise, u.a. den Prix Goncourt des lycéens, den Grand Prix du Roman und den Prix littéraire de la Vocation. Nun erscheint, dank dem Piper Verlag, der hochgelobte Mix aus Roman und Krimi auch bei uns in Deutschland in der Übersetzung von Carina von Enzenberg.

Es gehört vermutlich zu den am häufigsten bemühten Motiven des Schriftstellerdaseins – die Schreibblockade. Das leere Blatt übt einen teuflischen Sog aus, dem sich kein Autor lange zu entziehen vermag, es folgen Schaffenskrisen epischen Ausmaßes, Wahnsinn, Vereinsamung. So oder ähnlich ergeht es zunächst auch Starautor Marcus Goldman, der nach seinem ersten literarischen Erfolg – durchschlagend und bahnbrechend wie er war – den Zugang zu seiner Kreativität verloren zu haben scheint. Sein Verleger erwartet schnellstens ein neues Buch, doch Marcus ist vollkommen blockiert, fragt sich gar, ob er jemals wieder ein Buch schreiben wird. In seiner Verzweiflung wendet er sich an seinen alten Mentor und Freund Harry Quebert, der mit Der Ursprung des Übels einen der größten Romane des letzten Jahrzehnts geschrieben hat. Harry lädt ihn ein, in sein Haus Goose Cove im kleinen Städtchen Aurora, um dort seine Inspiration wiederzuentdecken. Aber neben dieser Inspiration entdeckt Marcus Goldman die schrecklichen Ausläufer einer Geschichte, die im Sommer 1975 ihren Anfang nahm.

“Ihr zweites Kapitel ist sehr wichtig, Marcus. Es muss Biss haben und die Leser umhauen.”
“Und wie geht das, Harry?”
“Das ist wie beim Boxen. Sie sind Rechtshänder, aber in der Deckungsposition ist immer Ihre linke Faust vorn. Nach Ihrer ersten Geraden ist ihr Gegner angeschlagen, und schon kommt ihre kraftvolle Rechte und haut ihn um. Genau so muss Ihr zweites Kapitel sein: Eine Rechte gegen den Unterkiefer des Lesers.”

In Harry Queberts Garten wird, mehr durch Zufall und im Zuge der Bepflanzung, die Leiche von Nola Kellergan entdeckt. Das damals fünfzehnjährige Mädchen verschwand am 30.August 1975 spurlos, der Fall konnte nie geklärt werden. Diese spektakuläre Entdeckung versetzt die Kleinstadt in New Hampshire in helle Aufregung. Ein Mörder lebte 33 Jahre lang unentdeckt unter ihnen – und nicht nur irgendeiner, sondern Harry Quebert, das von der gesamten amerikanischen Literaturszene hofierte Ausnahmetalent, dessen Roman längst zum kanonischen Werk geworden ist? Neben dem Skelett von Nola Kellergan findet man ihre Tasche – und in der das Manuskript von Der Ursprung des Übels. Harry Quebert beteuert seine Unschuld und sein alter Freund und ergebenster Schüler Marcus Goldman beginnt, seine eigenen Nachforschungen über den Sommer 1975 anzustellen – Nachforschungen, die ihm zu seinem zweiten Buch verhelfen werden.

In meinem Leben gab es nur Harry, und seltsamerweise stellte ich mir überhaupt nicht die Frage, ob er schuldig war oder nicht: Die Antwort hätte ohnehin nichts geändert. Das war ein komisches Gefühl. Ich glaube, ich hätte ihn lieber gehasst und ihm mit der ganzen Nation ins Gesicht gespuckt, das wäre einfacher gewesen. Stattdessen sagte ich mir nur: Er ist ein Mensch, und Menschen haben ihre Dämonen. Jeder von uns. Die Frage ist nur, wie viel man diesen Dämonen durchgehen lässt.

Was sich zunächst wie ein ganz gewöhnlicher Krimi liest, entwickelt eine ungeahnte Sogkraft. Auf über 700 Seiten lässt Joël Dicker Aurora und seine Bewohner vor den Augen des Lesers lebendig werden und in halsbrecherischem Tempo präsentiert er ihm immer neue Wendungen, Verstrickungen und Schicksale. Dass Harry Quebert, zum damaligen Zeitpunkt vierunddreißig, eine Affäre mit der fünfzehnjährigen Nola Kellergan hatte, lässt den Fall zunächst ganz klar und eindeutig erscheinen, doch Dicker hat so einige Überraschungen parat, die er nach und nach aus dem Ärmel zieht. Nicht alle sind sehr wahrscheinlich und ihre Anhäufung könnte man kritisieren, gelänge es Dicker nicht auf so bravouröse Weise, die Fäden jederzeit in der Hand zu halten und sich nicht in seinen Erzählsträngen zu verlieren. In zahlreichen, fast cineastisch anmutenden Rückblenden arbeitet Marcus Goldman die Geschehnisse auf, der Leser springt mit ihm durch die Zeit und ist durch diesen erzählerischen Trick immer hautnah am Geschehen. Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert ist ein kriminalistischer Unterhaltungsroman erster Güte, von dem man sich gern und bereitwillig mitreißen lässt. Spannend und unerwartet gut kommt er daher und hält bis zum Ende sein Tempo. Eine uneingeschränkte, unbedingte Leseempfehlung, nie sind knapp über 700 Seiten so rasend schnell vorbeigezogen!

“So ist das Leben, Goldman. Niemand ist frei. Wenn die Menschen frei wären, wären sie glücklich. Kennen Sie viele Menschen, die wirklich glücklich sind?”

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