Alle Artikel mit dem Schlagwort: piper verlag

Maggie O’Farrell – Ich bin, ich bin, ich bin

Ist es die Endlichkeit, die einem Leben überhaupt erst Bedeutung und Sinn verleiht? Und wie oft sind wir dem eigenen Ende bislang entgangen, womöglich ohne es zu wissen? Maggie O’Farrell schildert Episoden ihres Lebens, in denen eben dieses Leben gefährdet war. Für wenige Sekunden und Minuten oder über lange Phasen der Krankheit. Gefährdet durch Dritte, den eigenen Leichtsinn oder den Zufall. Am Ende steht, trotz aller Konfrontation mit dem Tod, das Leben. Mit acht Jahren erkrankt Maggie O’Farrell an Enzephalitis. Sie kann nicht mehr laufen, nicht mehr sprechen, sich nicht mehr orientieren. Die Ärzte prognostizieren ein Leben als Pflegefall; vorausgesetzt es gibt ein Weiterleben. Entgegen aller Befürchtungen kämpft sich O’Farrell nicht nur aus dem Rollstuhl, sie lernt auch das Sprechen und das Schreiben wieder neu, macht unter massiv erschwerten Bedingungen am Ende einen regulären Schulabschluss. Es ist ihre erste, bewusste Begegnung mit dem Tod und der eigenen Endlichkeit. Es hätte dort schon vorbei sein können. Zu früh, zu schnell. Sie erinnert sich heute bruchstückhaft an die Hochphasen ihrer Krankheit, eingesperrt in den eigenen Körper und …

Birgit Vanderbeke – Wer dann noch lachen kann

Sie wird von ihrem Vater grün und blau geschlagen. Ihre Mutter dreht in der Küche das Radio lauter. Sie flüchtet sich in Fantasie, in ihre innere ältere Stimme, die es nur geben kann, wenn es eine Zukunft gibt. Das Leben lehrt sie früh, dass man nur selbst auf sich aufpassen kann. Birgit Vanderbekes Roman ist eine Meditation über Gewalt, die Menschen einander antun können. Aber auch über die Mittel und Wege, das zu überwinden, was sie hinterlassen hat. Es gibt nur einen einzigen Menschen, der auf Sie aufpassen kann. Da sind Sie. Sonst niemand. (…) Und wenn Sie es nicht können, kann es niemand für Sie tun. Sie hat keinen Namen. Ihre innere Stimme nennt sie Karline. Ihr Vater nennt sie mein Augenstern. Die Familie stammt aus dem Osten und hat einige Zeit im Flüchtlingslager verbracht, bevor sie endgültig im Westen Fuß fassen kann. Der Vater arbeitet bei Hoechst, einem der drei größten Chemie- und Pharmaunternehmen des Landes. Es ist die Zeit des Vietnamkriegs. Welche Medikamente ins Haus kommen, bestimmt er. Nicht die von Bayer, …

Nathan Hill – Geister

Hills Debütroman ist das, was man im besten Sinne einen Pageturner nennt. Geschmeidig geschrieben, fluffig zu lesen, wortgewandt, humorvoll und geschickt komponiert. Samuel Anderson, der typische Literaturprofessor amerikanischer Machart, begibt sich aus finanziellen Gründen auf die Suche nach seiner Mutter. Die hat ihn und die Familie von einem Tag auf den anderen verlassen und tritt nun als sogenannter “Packer-Attacker” steinewerfend ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Was folgt, ist nicht nur die Erkundung einer mütterlichen Biographie, sondern auch ein Stück amerikanische Geschichte. Samuel Anderson ist gelangweilt und desillusioniert. Er muss sich mit Schülern herumplagen, die an Hamlet im Speziellen und der Literatur im Allgemeinen kein Interesse haben. Mit Schülerinnen, die ihre Seminararbeiten fälschen, daran nichts Verwerfliches finden können und um keine dumme Ausrede verlegen sind. Vor einigen Jahren hatte er selbst schriftstellerische Ambitionen, die ihm zwar einen Buchvertrag mit gewaltigem Vorschuss eingebracht, aber kein Buch gezeitigt haben. Nun steht sein windiger Verleger Periwinkle auf der Matte und verlangt den längst verjubelten Vorschuss zurück. In seiner Notlage gesteht er, die Frau zu kennen, die allerorten als “Packer-Attacker” von …

Arthur Schnitzler – Später Ruhm

Eduard Saxberger hat vor gut dreißig Jahren einen Gedichtband geschrieben, der von der Öffentlichkeit weitgehend unbeeindruckt zur Kenntnis genommen worden ist. “Die Wanderungen” gerieten, wie ihr Verfasser, in Vergessenheit, bevor sie überhaupt so richtig bemerkt werden konnten. Saxberger wird Beamter und verwirft eine schriftstellerische Laufbahn, bis eines Tages ein junger Mann vor seiner Tür steht, der sich als glühender Verehrer seines Frühwerkes herausstellt. *Rezension enthält Spoiler Unter dem Scheitern seines frühen Lebenstraumes hat Eduard Saxberger nie besonders gelitten. Zwar hat er seine Gedichte in der Jugend mit einiger Verve verfasst, allerdings blieben sie auch seine einzige Veröffentlichung. Er führt ein einfaches Junggesellendasein, trifft sich regelmäßig mit seinen Freunden in einer Gastwirtschaft zum Billard und verschwendet darüber hinaus keinen Gedanken mehr an seine längst begrabene Dichterkarriere. Als eines Tages aber Wolfgang Meier vor seiner Tür steht, der vor lauter Inbrunst und Ehrerbietigkeit nahezu durch seine Wohnung vibriert, ändert sich einiges. Meier lädt ihn zu seinem Dichterstammtisch ein. Deren Mitglieder würden Saxberger allesamt bewundern und über sein Kommen sicher hocherfreut sein. Der Alte lässt sich überreden und …

Heinrich Steinfest – Das grüne Rollo

Heinrich Steinfest ist bekannt für seine überbordende Fantasie, seinen einmaligen Humor und seine trotz aller Verrücktheiten doch geerdete und pointierte Sprache. Das brachte ihm u.a. im letzten Jahr eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis ein. ,Der Allesforscher‘ schaffte es sogar auf die Shortlist. Auch mit ,Das grüne Rollo’ erzählt Steinfest eine aberwitzige Geschichte, die mit Anklängen an Michael Ende begeistert und bis zum Schluss darüber im Unklaren lässt, was wirklich vor sich geht. Spannend, witzig, nachdenklich – von Heinrich Steinfest lässt man sich viel erzählen. Es brauchte eine geistige Verfassung jenseits von frisch gepreßtem Orangensaft. Theo März ist eigentlich ein ganz normaler zehnjähriger Junge. Er ist gerade auf das Gymnasium gewechselt, hat einen Bruder und eine Schwester und lebt in einer intakten Familie. Alles hat seine Ordnung, bis er eines Abends plötzlich vor seinem Fenster ein flaschengrünes Rollo erblickt. Das ist aus zweierlei Gründen bemerkenswert. Einerseits natürlich, weil es wie aus dem Nichts auftaucht und eine ganz eigentümliche Anziehungskraft entfaltet. Andererseits aber auch, weil seine Eltern sich immer äußerst strikt gegen jede Art von Fensterverkleidung …

Heinrich Steinfest – Der Allesforscher

Wenn Wale explodieren und der Grund für einen völlig ungeplanten Krankenhausaufenthalt sind, wenn Flugzeuge abstürzen, Manager plötzlich Bademeister werden und Kinder adoptieren, die eine Sprache sprechen, an denen sich selbst der gewiefteste Linguist die Zähne ausbeißt – dann muss man sich in einem Roman von Heinrich Steinfest befinden. Unterhaltsam und angereichert mit allerlei kleinen philosophischen Alltagsexkursen, abgedreht und einzigartig. Sixten Braun hat Pech, als er in seiner Eigenschaft als Manager in Taiwan gerade zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Direkt vor seinen Augen explodiert ein riesiger Wal und von den in die Umgebung katapultierten Überresten des Meeressäugers getroffen, wird Sixten ins Krankenhaus eingeliefert. Es hat ihn hart getroffen – was vom Wal es auch immer war, das ihn erwischte. (Für alle übrigens, die glauben, Heinrich Steinfest hätte sich etwas so Absurdes wie eine Walexplosion ausgedacht – nö. Gibt es. Gab es. 2004 eben dort, wo Sixten sich aufhält) Wer gesundheitlich, im wahrsten Sinne des Wortes, (durch einen Wal) angeschlagen ist, wird kritisch beäugt. Wie wahrscheinlich ist es schon, dass einem sowas passiert? “Oha!” Ein …

Ramona Ausubel – Der Anfang der Welt

Ein kleines karpatisches Dorf beschließt, kurzerhand die Schöpfungsgeschichte rückgängig zu machen und einen neuen Beginn der Welt auszurufen. Einer Welt, in der niemand um sein Leben fürchten muss, einer Welt,die abgetrennt von allem anderen existiert. Einer Welt, in der die Menschen letztlich auch nicht anders sind als anderswo. Ein sprachgewaltiges Märchen in Zeiten des Krieges. Angefangen hat es 1939 am nördlichen Rand Rumäniens, auf einer kleinen Halbinsel in der Schleife eines lehmigen Flusses. Die Bewohner von Zalischik führen, trotz der weltpolitischen Gegebenheiten, in ihrer Abgeschiedenheit ein weitgehend ruhiges Leben. Es ist ursprünglich und einfach – bis zu dem Augenblick, als sie aus ihrem Fluss eine fremde Frau retten, die, nur mit ein paar Lumpen bekleidet, den Krieg durch Erzählungen in die Häuser Zalischiks bringt. Die Fremde hat ihren Mann und ihre Kinder verloren, ab jetzt, sagt sie, müssten sich alle vor diesem Krieg und seinen Handlangern verstecken; allen voran die, die jüdischen Glaubens sind, wie die kleine karpatische Gemeinde. Die Fremde wird für die Bewohner eine Art Heilige, der Stein des Anstoßes, als sie beschließen, …

Joël Dicker – Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Joël Dicker ist ein Schweizer Schriftsteller. Der Sohn einer Buchhändlerin und eines Lehrers führte sieben Jahre lang seine eigene Zeitschrift, wurde für sein umweltpolitisches Engagement ausgezeichnet und studierte sowohl Schauspiel als auch Jura. La Vérité sur l’affaire Harry Quebert erschien 2012 im Original und gewann zahlreiche Preise, u.a. den Prix Goncourt des lycéens, den Grand Prix du Roman und den Prix littéraire de la Vocation. Nun erscheint, dank dem Piper Verlag, der hochgelobte Mix aus Roman und Krimi auch bei uns in Deutschland in der Übersetzung von Carina von Enzenberg. Es gehört vermutlich zu den am häufigsten bemühten Motiven des Schriftstellerdaseins – die Schreibblockade. Das leere Blatt übt einen teuflischen Sog aus, dem sich kein Autor lange zu entziehen vermag, es folgen Schaffenskrisen epischen Ausmaßes, Wahnsinn, Vereinsamung. So oder ähnlich ergeht es zunächst auch Starautor Marcus Goldman, der nach seinem ersten literarischen Erfolg – durchschlagend und bahnbrechend wie er war – den Zugang zu seiner Kreativität verloren zu haben scheint. Sein Verleger erwartet schnellstens ein neues Buch, doch Marcus ist vollkommen blockiert, fragt sich gar, …

François Lelord – Das Geheimnis der Cellistin

François Lelord werden die meisten entweder im Zusammenhang mit psychiatrischer Praxis oder aber durch seine Hectorromane kennen. (Hector oder die Suche nach dem Glück 2003, Hector und die Geheimnisse der Liebe 2005, Hector und die Entdeckung der Zeit 2006, Im Durcheinandertal der Liebe 2008, Hector und die Geheimnisse des Lebens 2010). Lelord arbeitete jahrelang als Psychiater sowohl in öffentlichen Krankenhäusern als auch in seiner Privatpraxis. Mit Christophe André schrieb er überwiegend Fachbücher zu psychologischen Themen. Mit Das Geheimnis der Cellistin, ursprünglich 1993 erschienen, gibt Lelord Einblick in seine psychiatrische Praxis. In mehreren leicht verständlichen Kapiteln werden die Symptomausprägungen verschiedenster Störungen beschrieben. Es finden sich Abhandlungen über Agoraphobie, Autismus, Depression, Schizophrenie, Bulimie und akute Stressreaktionen. Lelord unterwirft hier seine damaligen Schriften einem prüfenden Blick und gibt nicht nur Einsicht in die Hirnforschung und etwaig vorhandene genetische Dispositionen, sondern er zieht auch einen grundsätzlichen Vergleich zwischen damaligen und heutigen Behandlungsmethoden. Nicht immer hat sich viel verändert, ab und an bemerkt man aber doch den Fortschritt der heutigen Psychiatrie. Hier sehe ich den ersten, allerdings einzigen Kritikpunkt. Man merkt …