Alle Artikel mit dem Schlagwort: reprodukt

Kurz und knapp rezensiert im November!

Im November geht es um ein außergewöhnliches Talent, außergewöhnliche Taten und die Rückschau auf ein Leben. Die Lebensgeschichte von William James Sidis hat in diesem Herbst gleich zwei Autoren zu ihren Romanen inspiriert. Neben Morten Brask schreibt auch der deutsche Autor Klaus Cäsar Zehrer über die »wahre Geschichte« eines Wunderkindes, das bereits im Kleinkindalter diverse Fremdsprachen beherrschte, inklusive einer selbst erfundenen, und mit elf Jahren in Harvard Vorlesungen über höhere Mathematik hielt. William James Sidis wird ein IQ zwischen 250 und 300 nachgesagt, sein Geist ist darauf ausgelegt, komplexe Probleme zu lösen. Sidis ist vor allem das Ergebnis eines Erziehungsexperiments, an dessen Ende, wäre es nach seinem Vater Boris Sidis gegangen, ein Patentrezept für Genies gestanden hätte. Leider entwickelt sich nicht alles wie gewünscht. William schert aus, er fällt in Ungnade, weil er zwar hervorragend denken, aber kaum mit anderen interagieren kann. Die Zwischentöne menschlichen Umgangs sind ihm fremd, Humor versteht er nicht. Klaus Cäsar Zehrer erzählt diese Geschichte breit von ihrem Beginn als Idee und Theorie bis zum bitteren Ende, mit viel Einfühlungsvermögen, gefällig, …

Riad Sattouf – Esthers Tagebücher

Die zehnjährige Esther führt ein Leben zwischen Iphone und YouPorn, auch wenn sie ersterem erfolglos hinterherschmachtet und von zweiterem bloß weiß, dass die Jungs in der Schule davon reden. Riad Sattouf dokumentiert in seiner als langfristiges Projekt angelegten ersten Reportage das Aufwachsen und den Alltag eines französischen Mädchens an der Schwelle zum vielzitierten Ernst des Lebens. Wie lebt es sich heutzutage als zehnjähriges Mädchen? Was ist wichtig und hip? Riad Sattouf, der u.a. mit seinen autobiographischen Comics Der Araber von morgen bekannt geworden ist, richtet sein Augenmerk nun auf eine ganz andere Lebenswirklichkeit. Als Chronist von Esther setzt er ihre Alltagsgeschichten grafisch um. Dabei geht es um die Spiele mit ihren Freundinnen, die Jungs in der Klasse, angesagte Musik und die allmähliche Orientierung in der Welt. Esther ist ein Papakind und voller Bewunderung für ihren starken Beschützer. Im Gegensatz zu ihrem Bruder besucht sie eine Privatschule, die die Eltern sich einiges kosten lassen. Sattoufs Aufzeichnungen sind aber nicht nur Einblicke in die ganz normalen Sorgen und Nöte einer Zehnjährigen, sie sind auch Zeitdokument und Spiegel …

Paco Roca – la casa

Mit Der Winter des Zeichners und Kopf in den Wolken hat sich der Spanier Paco Roca bereits einen Namen gemacht. Einfühlsame Geschichten und Zeichnungen sind sein Steckenpferd, individuelle Erlebnisse, das Kleine und Überschaubare, in dem sich Fragen größerer Relevanz verbergen. Bereits bei Kopf in den Wolken beschäftigte Roca sich mit dem Altern, dem Erinnern und Vergessen, allerdings aus der Perspektive eines Demenzpatienten. la casa wählt den Blickwinkel der Zurückbleibenden. Nach dem Tod ihres Vaters kehren drei ungleiche Geschwister in das Ferienhaus ihrer Kindheit zurück. Dort hat der Vater die letzten Jahre allein verbracht, die Beete umgegraben und den Garten gepflegt. Eigentlich treffen die Geschwister bloß aufeinander, weil sie das Haus entrümpeln und verkaufen wollen. Doch im Zuge der gemeinsamen Arbeit, der gemeinschaftlichen Erinnerung an den Verstorbenen kommen sie sich nicht nur untereinander wieder näher, sie entdecken auch Facetten ihres Vaters, die ihnen zu seinen Lebzeiten verborgen geblieben sind. So hegte und hätschelte der Vater einen Feigenbaum wie kaum ein anderes Gewächs in seinem Garten, weil er ihn an seine Kindheit erinnerte. Wie auch in seinen …

Barbara Yelin – Irmina

Irmina von Behdinger ist Teil eines Austauschprogramms, das sie 1934 aus Deutschland nach London führt. Sie macht an der Commercial School eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin und lernt auf einer wenig amüsanten Cocktailparty den schwarzen Jurastudenten Howard kennen. Ihrer beider Außenseiterposition schweißt sie zusammen, aber der Lauf der Dinge trennt sie und weist beiden in den nächsten Jahren ganz verschiedene Rollen zu. Irmina ist Deutsche und wird, ganz gleich, welches Gespräch sie führt, in England unweigerlich auf Hitler angesprochen. 1934 stirbt Hindenburg und Hitler übernimmt auch noch das Amt des Reichspräsidenten, Irminas Anwesenheit in England wird abwechselnd als deutsche Infiltration oder politische Flucht betrachtet. Man fragt sie, ob sie Kommunistin sei. Oder Jüdin. Oder auf der Suche nach einem reichen englischen Mann. Nein, eigentlich möchte sie nur in London ihre Ausbildung absolvieren, mit der großen Politik hat sie wenig zu schaffen. Irmina ist weitgehend unpolitisch, sie steht den Ereignissen in Deutschland passiv bis gleichgültig gegenüber, ja, ist sogar genervt von den ständigen Fragen und Gesprächen über Hitler. Sie verkennt, wie viele Deutsche damals, jedenfalls fraglos die …

Lukas Jüliger – Vakuum

Die Jugend ist gemeinhin ein Zustand, den man oft verflucht, wenn man sich mitten in ihm befindet, aber nostalgisch verklärt, wenn der Abstand groß genug ist. In Lukas Jüligers ,Vakuum’ wird es langsam Sommer, etwas liegt in der Luft, blüht und knospt. Es ist nicht nur der Sommer oder der Schulabschluss, es ist mehr. Eine brodelnde Bewegung unter der Oberfläche, die kaum jemand wahrzunehmen scheint. Außer vielleicht der Junge, dessen Freund all seine Pflanzen verschenkt und Elektrogeräte verbrennt. Er, dessen Name nicht genannt wird, ist etwas einsam und melancholisch. Sein japanischer Freund Sho ist bereits seit Monaten nicht mehr derselbe, mutmaßlich seit sie gemeinsam die Blüten einer besonderen Pflanze zu Tee verarbeitet haben. Sho verschwindet immer wieder, ist geistesabwesend, beinahe leblos, sieht man von den notwendigsten Verrichtungen ab. Sho verschenkt seine gesamte Habe. Was dem einen wie ein Neuanfang erscheinen will nach dem Zusammenbruch, erscheint manch anderem wie ein letztes Abschiednehmen. Zur gleichen Zeit lernt der Junge ein Mädchen kennen. Sie ist ebenso einsam wie er, beobachtet menschliches Miteinander mehr als dass sie selbst Teil …

Paco Roca – Kopf in den Wolken

Paco Roca gilt als einer der erfolgreichsten Comiczeichner Spaniens. Hat er mit ,Der Winter des Zeichners‘ einen Blick auf fünf leidenschaftliche Zeichner und deren Versuch geworfen, ein eigenes Magazin zu veröffentlichen, begleitet ,Kopf in den Wolken’ den alten Emilio auf seinem Weg ins Vergessen. Ein anrührendes und einfühlsames Werk über das das Alter und Demenz. Emilio war einst Leiter einer Bank. Akkurat, vertrauenswürdig, genau. Im Alter jedoch wird er zusehends schusselig. Er vergisst, dass er längst nicht mehr arbeitet und schlägt seinen Kindern im Gespräch aufgrund ihrer finanziellen Lage ein vermeintlich erbetenes Darlehen aus. Immer wieder kann Emilio Vergangenheit und Gegenwart nicht unterscheiden. Seine Kinder entschließen sich, letztlich mit der Situation überfordert, Emilio in ein Pflegeheim zu bringen, wo er fachkundige Betreuung erfährt. Und sie selbst nicht allzu oft auftreten müssen. Zwar verabschieden sie sich mit der Beteuerung, ihn oft zu besuchen; diese guten Absichten bleiben aber weit mehr Lippenbekenntnis als dass sie in die Tat umgesetzt werden. Schade, im Pflegeheim, das Paco Roca zeichnet, aber nicht ungewöhnlich. Mancher versucht verzweifelt, seinen Optimismus beizubehalten und …

David Zane Mairowitz & Robert Crumb – Kafka

David Zane Mairowitz ist ein amerikanischer Schriftsteller. Er studierte Englische Literaturgeschichte, Philosophie und Theaterwissenschaft. Neben seinen journalistischen Arbeiten hat er auch Theaterstücke, Kurzgeschichten und Hörspiele verfasst. Seit 1966 lebt Mairowitz in Europa, in Avignon und Berlin. Robert Crumb ist ein amerikanischer Künstler und gehört wohl zu den bekanntesten und bedeutendsten Illustratoren und Comickünstlern der letzten Jahrzehnte. Gerade im Bereich der Underground-Comics, der Comics, die in Klein – oder Selbstverlagen veröffentlicht wurde, wirkte er schon in den 60ern tatkräftig mit. 1999 wurde Crumb auf dem Comic-Festival in Angoulême für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Lange war dieses Werk über Kafka nicht mehr erhältlich, nun hat der Berliner Reprodukt Verlag es in neuem Gewand wieder veröffentlicht. An Kafka scheiden sich ja bekanntlich die Geister. Die einen halten den tschechisch-.deutschen Schriftsteller für überschätzt, die anderen für genial. Die einen sehen sein Werk als nahezu zwanghafte Auseinandersetzung mit verschiedensten Autoritäten, die anderen einen kleinen Jungen, der verzweifelt gegen die Übermacht seines Vaters kämpft. In allem mag vielleicht ein Körnchen Wahrheit stecken. Aber was wohl nahezu jeden erfasst, der Kafka liest – und …