Alle Artikel mit dem Schlagwort: frankfurter verlagsanstalt

Julia Wolf – Walter Nowak bleibt liegen

Die Begutachtung eines trainierten Frauenkörpers im öffentlichen Schwimmbad lässt Walter Nowak unsanft mit dem Beckenrand kollidieren. Vielleicht rutscht er aber auch auf den heimischen Badezimmerfliesen aus und schlägt sich den Kopf an. Irgendeine Erschütterung jedenfalls lässt in Walter Nowak, Pensionär, gut in Form, kein Kostverächter, einiges durcheinander geraten. Julia Wolf erschafft mit ihrem zweiten Roman einen ganz eigenen Walter-Sound: verloren, unnachgiebig, versöhnlich. Walter Nowak wollte immer hoch hinaus, Karriere machen. Im Nachkriegsdeutschland verdient er sein Geld mit Hebebühnen; der schmissige Firmenslogan: Wenn hoch, dann Nowak. Walter ist das Kind einer Deutschen und eines in Deutschland stationierten amerikanischen Soldaten, die Liaison ist kurz. Walter wird sich in den letzten Stunden seines Lebens an die Beschimpfungen der Mitschüler erinnern, die sie ihm, dem “Bastard”, auf der Straße hinterherbrüllten. Ohne Vater im hessischen Friedberg aufzuwachsen, als uneheliches Kind, war Ende der 50er Jahre kein Zuckerschlecken. Aber Walter beißt sich durch. Er organisiert seiner Mutter ein Autogramm vom King of Rock’n’Roll, der zum damaligen Zeitpunkt als US-Soldat in Friedberg stationiert ist. Elvis ist ein Fixstern in Walters Leben, mit …

Sandra Weihs – Das grenzenlose Und

Das grenzenlose Und ist für Marie das unselige Dazwischen. Die Welt, die immer aus zwei Polen besteht, ohne sich verbindlich auf nur einen von beiden festzulegen. Obwohl sie selbst voller Widersprüche steckt, kann sie die Widersprüche der Welt nicht aushalten. Marie leidet unter einer Borderline-Störung, lebt in einer betreuten Wohngruppe und liest Ciorans ,Vom Nachteil, geboren zu sein’. Sandra Weihs’ Debüt erzählt von einer Wiederentdeckung des Lebens, wo man es am wenigsten vermutet: im Angesicht des Todes. Aus ihrem Zimmer dröhnt System of a Downs ,Toxicity’, Rasierklingen sind meistens in Reichweite und Hoffnung ist etwas für unheilbare Realitätsverweigerer, nicht für Marie. Sie leidet unter einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus. Borderline ist mittlerweile, außerhalb der Literatur, eine sehr stigmatisierte Diagnose, die für die meisten schlicht “selbstverletzendes Verhalten” bedeutet und besonders in Zeiten der Pubertät grassiert wie eine hochansteckende Krankheit. Auch Marie verletzt sich selbst, oft in Situationen, in denen sie ihre Mutter in sich erkennt, in denen sie alle Verbindungen zu dieser Frau trennen will. Verbindungen, die in Fleisch und Blut liegen, wie sie glaubt. Ihre …

Julia Wolf – Alles ist jetzt

Eines jedenfalls ist vollkommen klar: So manche Erinnerungen verfügen über scharfe Reißzähne, mit denen sie die Vergangenheit schmerzlich gegenwärtig erscheinen lassen, wann immer die Gegebenheiten günstig sind. Julia Wolfs Debütroman erzählt in drastischer und knapper Form von dem Kampf einer jungen Frau gegen die Wunden von gestern. Ingrid ist jung und allein. Sie arbeitet in einer Live-Sex-Bar, schenkt dort Getränke aus, balanciert immer wagemutig am Abgrund entlang, pendelt hin und her zwischen Hysterie und Gleichgültigkeit. Sie hat mal an einer Tankstelle gejobbt, was sie jetzt aus ihrem Leben machen soll, ist ihr selbst ein Buch mit sieben Siegeln. Ihre Mutter ist Alkoholikerin solange Ingrid sich erinnern kann, der Vater verließ früh die Familie. Heute taucht er noch gelegentlich auf, meistens einmal im Jahr, um Ingrid die immer gleiche Frage zu stellen, es ist ein durchchoreographierter Beziehungsablauf, der von beiden wenig in Frage gestellt wird. Als Ingrid mit ihrem Bruder Gordon wieder einmal einen Pflichtbesuch bei Mutter Gabriele absolviert, “schließlich ist es ja Familie“, reißen in ihr viele alte Wunden auf, von denen sie sich wünschte, …