Alle Artikel in: Graphic Novel

Lukas Jüliger – Vakuum

Die Jugend ist gemeinhin ein Zustand, den man oft verflucht, wenn man sich mitten in ihm befindet, aber nostalgisch verklärt, wenn der Abstand groß genug ist. In Lukas Jüligers ,Vakuum’ wird es langsam Sommer, etwas liegt in der Luft, blüht und knospt. Es ist nicht nur der Sommer oder der Schulabschluss, es ist mehr. Eine brodelnde Bewegung unter der Oberfläche, die kaum jemand wahrzunehmen scheint. Außer vielleicht der Junge, dessen Freund all seine Pflanzen verschenkt und Elektrogeräte verbrennt. Er, dessen Name nicht genannt wird, ist etwas einsam und melancholisch. Sein japanischer Freund Sho ist bereits seit Monaten nicht mehr derselbe, mutmaßlich seit sie gemeinsam die Blüten einer besonderen Pflanze zu Tee verarbeitet haben. Sho verschwindet immer wieder, ist geistesabwesend, beinahe leblos, sieht man von den notwendigsten Verrichtungen ab. Sho verschenkt seine gesamte Habe. Was dem einen wie ein Neuanfang erscheinen will nach dem Zusammenbruch, erscheint manch anderem wie ein letztes Abschiednehmen. Zur gleichen Zeit lernt der Junge ein Mädchen kennen. Sie ist ebenso einsam wie er, beobachtet menschliches Miteinander mehr als dass sie selbst Teil …

Raphaela Doğan – Die Wurzeln der Lena Siebert

Lenas Mutter glaubt, dass die Welt voller ,Scientogen’ ist. Und die sind böse und gefährlich. So jedenfalls versteht sie die ständige Angst ihrer Mutter, die sie natürlich in ihrem Alter nicht als Verfolgungswahn identifizieren kann. Nachdem die Situation auf der Straße eskaliert, wird Lenas Mutter in eine Klinik eingewiesen, Lena selbst kommt zu einer Pflegefamilie. Raphaela Doğans Comic, das in diesem Jahr mit dem Graphic-Novel-Förderpreis AFKAT ausgezeichnet wurde, erzählt die Geschichte aus Lenas kindlicher Sicht. Lena lebt mit ihrer Mutter allein in der Großstadt, in einem dieser bekannten Problemstadtteile, in denen man HartzIV für eine komfortable Sache und Schulen für Unsinn hält. Sie ist gewohnt, dass ihre Mutter sie stets vor den ,Scientogen’ (also: Scientologen) warnt, die unbemerkt jeden Tag auf der Straße umhergehen. Es könnte jeder sein, man sieht es ihnen nicht an. Lena wächst mit dem Gefühl auf, dass die Welt ein tendentiell bedrohlicher Ort ist, an dem man sich besonders vor Fremden in Acht nehmen muss. Sie hat nicht viele Freunde. Lena aber ist noch viel zu jung, um die Situation zu …

Paco Roca – Kopf in den Wolken

Paco Roca gilt als einer der erfolgreichsten Comiczeichner Spaniens. Hat er mit ,Der Winter des Zeichners‘ einen Blick auf fünf leidenschaftliche Zeichner und deren Versuch geworfen, ein eigenes Magazin zu veröffentlichen, begleitet ,Kopf in den Wolken’ den alten Emilio auf seinem Weg ins Vergessen. Ein anrührendes und einfühlsames Werk über das das Alter und Demenz. Emilio war einst Leiter einer Bank. Akkurat, vertrauenswürdig, genau. Im Alter jedoch wird er zusehends schusselig. Er vergisst, dass er längst nicht mehr arbeitet und schlägt seinen Kindern im Gespräch aufgrund ihrer finanziellen Lage ein vermeintlich erbetenes Darlehen aus. Immer wieder kann Emilio Vergangenheit und Gegenwart nicht unterscheiden. Seine Kinder entschließen sich, letztlich mit der Situation überfordert, Emilio in ein Pflegeheim zu bringen, wo er fachkundige Betreuung erfährt. Und sie selbst nicht allzu oft auftreten müssen. Zwar verabschieden sie sich mit der Beteuerung, ihn oft zu besuchen; diese guten Absichten bleiben aber weit mehr Lippenbekenntnis als dass sie in die Tat umgesetzt werden. Schade, im Pflegeheim, das Paco Roca zeichnet, aber nicht ungewöhnlich. Mancher versucht verzweifelt, seinen Optimismus beizubehalten und …

Alison Bechdel – Wer ist hier die Mutter?

Nachdem Alison Bechdel in ,Fun Home‘ ihre Kindheit und die Beziehung zu ihrem Vater näher unter die Lupe nahm, beschäftigt sich ,Wer ist hier die Mutter?’ (Original: “Are you my mother”?) mit einem schwierigen Mutter-Tochter-Verhältnis, das sich in einem bravourösen Spagat zwischen eigenen Erinnerungen, psychoanalytischen Theorien und Virginia Woolf ein Stück zu klären beginnt. Alison Bechdel wächst in einer Kleinstadt im Nordwesten der USA auf. Ihre Eltern sind Lehrer, die nebenbei ein Bestattungsunternehmen führen, das Verhältnis ist eher unterkühlt. Das bessert sich nicht maßgeblich, nachdem sie ihren Eltern mitteilt, dass sie lesbisch ist. Die Mutter geht zunächst erschrocken auf Abstand, erzählt der Tochter jedoch dann, dass der Vater homosexuell sei und sie bereits mit mehreren Männern betrogen habe. Bechdels Vater stirbt, als sie 19 ist, bei einem Verkehrsunfall. Sie jedoch interpretiert es im Nachhinein als Selbstmord, da ihre Mutter angesichts seiner zahlreichen Affären die Scheidung eingereicht hatte. Ist ,Fun Home‘ eher die kritische Auseinandersetzung mit ihrem Vater, widmet sich Alison Bechdel in ,Wer ist hier die Mutter‘ mehr ihrer distanzierten und unnahbaren Mutter, von der …

10 Graphic Novel Tipps

Viele würden sich gern mal an das Genre Graphic Novel heranwagen, finden aber den richtigen Einstieg nicht. Die Auswahl ist groß, die Qualität ist, wie überall, schwankend. Kürzlich erst habe ich die eher experimentell gestaltete Graphic Novel ,Jimmy Corrigan‘ vorgestellt, die sich vermutlich mehr an ein etwas geübteres Publikum richtet. Nun habe ich zehn weitere Tipps zusammengetragen, Klassiker und neuere Exemplare, die den Einstieg in die Welt der Comics erleichtern und ihre Vielfältigkeit abbilden. 1. Marjane Satrapi – Persepolis Ein absoluter Klassiker unter den Graphic Novels mit politischem Hintergrund. Marjane Satrapi wächst in Teheran zur Zeit der Islamischen Revolution auf. Viele ihrer Verwandten sind inhaftiert worden, Unruhen bestimmen das Land. Mit 15 verlässt sie den Iran und geht nach Wien, um dort in stabileren Verhältnissen eine Ausbildung zu beginnen. Doch was anfangs wie eine große Chance erscheint, entpuppt sich als sehr viel schwieriger als gedacht. ,Persepolis’ wurde sogar zu einem Animationsfilm gemacht. Politisch, autobiographisch, authentisch! Marjane Satrapi – Persepolis, Süddeutsche Zeitung Edition, 347 Seiten, 9783866158719, 19,90 € 2. Will Eisner – Ein Vertrag mit Gott …

Chris Ware – Jimmy Corrigan

Die Graphic-Novel ist den Kinderschuhen entwachsen und geht mit großen Schritten der Adoleszenz entgegen. In Chris Wares ,Jimmy Corrigan’ manifestiert sich in seiner Vielfalt alles, was an diesem Genre so bewundernswert, so kunstfertig ist. Und schafft, zusammengenommen, eine Blaupause für das, was Comics zu leisten imstande sind, wenn sie allzu ausgetretene Pfade verlassen. Die Geschichte des Jimmy Corrigan ist schnell erzählt: Der “klügste Junge der Welt”, wie er genannt wird, kennt seinen Vater nicht. Trotz relativ fortgeschrittenen Alters ist seine Mutter noch immer seine einzige Bezugsperson. Ob er es will oder nicht, jeden Tag ruft sie ihn an und will wissen, was er tut und wie es ihm geht. Eine Freundin hat er nicht und hätte er sie, sie würde voraussichtlich unter den gegebenen Umständen schnell das Weite suchen. Eines Tages erhält Jimmy eine Nachricht seines Vaters, der möchte ihn gern kennenlernen. Was er zunächst für einen schlechten Scherz hält, ist ein völlig ernstgemeintes Angebot und so kommt es, dass Jimmy Corrigan, der klügste Junge der Welt, das erste Mal seinem Vater gegenübersteht. Es ist …

Alfonso Zapico – James Joyce

James Joyces Werke sind längst Weltliteratur. Sein Mammutwerk ,Ulysses’, an einem einzigen Tag in Dublin spielend, markiert für manchen den Aufbruch in die literarische Moderne, für den anderen ist der exzentrische Ire unlesbar. Wie es sich auch immer im Einzelnen verhält, Alfonso Zapico bietet mit seiner biographischen Graphic Novel einen gelungenen Einstieg in Joyce und sein Wirken. Biographien berühmter Literaten in Comicform zu veröffentlichen, erfreut sich seit einiger Zeit großer Beliebtheit. Seien es nun Nietzsche, Thoreau oder Kafka, die Bebilderung ihres Lebens scheint sie uns näherzubringen, scheint sie greifbarer und menschlicher zu machen. Ist so ein graphischer Einstieg gut, fühlt man sich nicht selten animiert, tiefer in das Thema vorzudringen und die Bücher der nämlichen Autoren endlich (oder wieder) einmal zur Hand zu nehmen. Alfonso Zapico jedenfalls bringt Joyce näher – einen Exzentriker, der vom eigenen Genius bewundernswert überzeugt war. Aufgewachsen in einer sehr kinderreichen Familie, pflegt James Aloysius Joyce ein sehr enges Verhältnis zu seinem Vater. Er scheint dessen Talente geerbt zu haben, John Joyce erkennt sich in seinem Sohn wieder und macht keinen …

Michael Goodwin & Dan E.Burr – Economix

Mit einem Comic hochkomplexe wirtschaftliche Zusammenhänge begreiflich zu machen, scheint auf den ersten Blick eine höchst undankbare, wenn nicht unlösbare Aufgabe zu sein. Michael Goodwin und Dan E.Burr ist es mit ihrer Publikation – in Deutschland im Hause Jacoby & Stuart erschienen – allerdings gelungen, die Graphic Novel in den Stand eines pädagogischen Werks zu heben, das als Lektüre an Schulen den Lehrenden und Lernenden sicherlich nicht zum Nachteil gereichen würde. Ein bravouröses ,Es war einmal das Wirtschaftswesen’. Ein Wunderwerk! Wer denkt bei ,Economix’ nicht sofort an ,Logicomix’, die hervorragend verbildlichte Geschichte um das Leben Bertrand Russells und die Grundlagen der Mathematik? Die Graphic Novel ist, wie wenige andere Medien, auf eine einzigartige Weise in der Lage, komplexe Zusammenhänge durch abstrakte Verbildlichung begreiflich zu machen. Das galt bereits bei Logicomix wie auch im Falle dieser Gemeinschaftsarbeit Michael Goodwins und Dan Burrs. Viele Menschen wissen, nicht erst seit 2008, wenngleich dieses Jahr ihre dunkelsten Ahnungen auch in beängstigender Weise fassbar gemacht hat, in welchem Umfang die Wirtschaft und wirtschaftliche Interessen einzelner in ihre Lebenswirklichkeit eingreifen. Mit …

Stephen Collins – Der gigantische Bart, der böse war

Was passiert, wenn das Chaos in die Ordnung hineinbricht, grundlos, ungefragt, unvorhersehbar – das zeigt Illustrator Stephen Collins anhand einer märchenhaften Parabel über die schöpferische Kraft des Ungewöhnlichen. Dave ist alles in allem ein unscheinbarer und geordneter Mensch. Er lebt auf ,HIER’, einer Insel, die in ihrer Aufgeräumtheit und  Akkuratesse gewissermaßen Fels in der Brandung und Halt für jeden Menschen ist, der Gleichförmigkeit und Routine schätzt. Nichts fällt auf HIER aus dem Rahmen, nichts stört und verwirrt die Sinne. Tag für Tag hört Dave einen einzigen Song in Endlosschleife (‘Eternal Flame’ von den Bangles), geht er einer Arbeit in einer Firma nach, deren Ziel er nicht kennt und deren Zweck er nicht versteht. In ihrer ständigen Wiederkehr aber gibt sie ihm Sicherheit, Geborgenheit. Denn da ist etwas außerhalb von HIER, das alle Menschen fürchten. Umgeben von dunkler See liegt jenseits von HIER DORT. Der Inbegriff des Chaotischen. Niemand ist jemals dort gewesen, doch, wie es immer so ist – man erzählt sich furchtbare Geschichten. Am Rande ihres Bewusstseins lauert für alle Menschen das Schreckgespenst von …

David Zane Mairowitz & Jaromir 99 – Das Schloss

David Zane Mairowitz ist ein amerikanischer Schriftsteller. Er studierte Englische Literaturgeschichte, Philosophie und Theaterwissenschaft. Neben seinen journalistischen Arbeiten hat er auch Theaterstücke, Kurzgeschichten und Hörspiele verfasst. Seit 1966 lebt Mairowitz in Europa, in Avignon und Berlin. Jaromír 99 (eigentlich Jaromír Švejdík) ist ein tschechischer Comic-Zeichner, Musiker, Maler und Sänger. Gemeinsam mit Jaroslav Rudiš veröffentlichte er die Graphic-Novel-Reihe um Alois Nebel. Diese Kafka-Adaption erschien im Knesebeck Verlag. ,Das Schloss‘ gehört zu den literarischen Fragmenten, die Kafka niemals beendete. Die Geschichte selbst ist schnell umrissen. Der Landvermesser K. kommt des Abends in einem verschneiten Dorf an, um dort seine Arbeit zu verrichten. Über dem Dorf, etwas erhöht, thront ein Schloss, das nicht nur die Häuser selbst, sondern auch die Menschen in ihnen zu überragen scheint. Das Dorf brauche keinen Landvermesser und habe auch niemanden gerufen. Als K.’s Assistenten auftauchen, wird plötzlich klar, dass es sich um völlig andere Mitarbeiter handelt, die von ihrem Handwerk nicht das Geringste verstehen. Um den Irrtum aufzuklären, müsste K. ins Schloss gelangen – doch da wird er bis zum Ende des fragmentarischen …