Alle Artikel in: Sachbuch

Thomas Melle – Die Welt im Rücken

Durch dieses Buch heizt man wie elektrisiert, mit Höchstgeschwindigkeit, gefangen von der Klarheit und Schonungslosigkeit, der Wahrhaftigkeit jedes einzelnen Satzes. Thomas Melle leidet unter einer bipolaren Störung, er ist, wie man früher sagte, manisch-depressiv. Die Bipolarität ist gierig, wenn es darum geht, Identität und Leben des Betroffenen zu zerstören; sei es in den Hochstimmungen der Manie oder den Abstürzen der Depression. Dieses Buch ist gleichzeitig Zeugnis eines Krankheitsverlaufs und ein literarischer Bannzauber. Seit einigen Jahren steht Thomas Melle nun permanent unter dem Einfluss von Medikamenten. Zuerst Lithium, dann Valproinsäure. Sie verhindern starke Stimmungsausschläge in die eine oder andere Richtung, sie glätten und ebnen, was jahrelang ein Schlachtfeld war. Seit dem ersten Ausbruch der Krankheit 1999 hat Thomas Melle nahezu alles durchlebt, was in Verbindung mit Bipolarität möglich ist: Wahn, Selbstmordversuche, unzählige Psychiatrieaufenthalte, impulsive Reisen, exzessive Partys, den wirtschaftlichen Ruin. In den manischen Phasen ist Melle nicht nur ausnehmend aktiv und risikofreudig, er rutscht regelmäßig in psychotische Zustände, die sich mit denen eines Schizophrenen vergleichen lassen. Plötzlich verschiebt sich seine Wahrnehmung ins Überdrehte, alles scheint mit …

Frank Berzbach – Formbewusstsein

Wir neigen gemeinhin zu der Annahme, dass unser Alltag etwas ist, das unvermeidlich und gleichförmig wie ein Strom an uns vorüberzieht. Wir sind mittendrin, aber genau deshalb nehmen wir ihn nicht nur als selbstverständlich wahr, sondern allenthalben auch als etwas, in das uns die Gegebenheiten unseres Lebens hineindrängen – ob wir wollen oder nicht. Frank Berzbach zeigt anhand zentraler Themenbereiche unseres alltäglichen Lebens – Ernährung, Liebe, Medien, Kleidung und Besitz – wie wir zu aktiv Gestaltenden werden können. Achtsamkeit ist keine Entspannungstechnik. Das Trendthema dieser Tage – neben Superfoods und naheliegenden Sensationen wie Infused Water – ist Achtsamkeit; worunter einige fälschlicherweise entweder das Achtgeben auf sich selbst oder eine spezielle Art der Meditation verstehen. Vielmehr ist mit dem Begriff aber eine spezielle Haltung gemeint, bei der es darum geht “annehmend und geduldig zuzulassen, was geschieht, präsent, neugierig und sanftmütig zu bleiben und bedacht statt reflexhaft reagieren”. Laut Berzbach, der selbst Psychologie und Kulturpädagogik unterrichtet und seit Jahren Zen-Praktizierender ist, liegt ein zentrales Problem vieler Menschen in der Formlosigkeit und Beliebigkeit ihrer alltäglichen Entscheidungen. Statt bewusste …

Tim Parks – Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen

Bücher über Bücher gibt es viele. Sie handeln von der heilsamen Wirkung der Literatur (Lesen als Medizin, Die Romantherapie) oder frischen unsere Kenntnisse der Weltliteratur auf. Sie alle behandeln die überzeitlichen Vorteile des Lesens, die Kulturtechnik, das Buch als bewahrenswerte Erfindung. Tim Parks wiederum nimmt sich in seinen Essays ganz aktuelle Themen in Zusammenhang mit Büchern vor. Brauchen wir wirklich Geschichten? Wie steht es mit Ebooks und dem Urheberrecht? Wie verändert der Zwang zur Selbstvermarktung die literarische Arbeit eines Autors? Parks’ Betrachtungen sind anregend, kritisch und unbequem – ein echter Gewinn! Es wird viel romantisiert, wenn es um Bücher geht. Angefangen bei Lobliedern auf Geruch und Haptik über das Beschwören fremder Welten bishin zu nachweisbaren neurologischen Lerneffekten. Schließlich, heißt es, werden im Gehirn beim Lesen des Wortes “laufen” dieselben Areale aktiviert wie wenn wir tatsächlich laufen. Das muss doch was bedeuten! Tim Parks hat da einen deutlich pragmatischeren Standpunkt: Was für ein Unsinn! Als könnte uns das Lesen über Sex oder Gewalt auch nur annähernd auf die Erfahrung ihrer Intensität vorbereiten. Wenn ein Roman aber …

Carolin Emcke – Von den Kriegen

Unlängst mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, gehört Carolin Emcke unbestritten zu den intelligentesten, bedachtesten und analytisch fähigsten Autorinnen und Publizistinnen, die sich derzeit in Deutschland finden lassen. Ihre pointierten Kolumnen in der Süddeutschen Zeitung sind eigentlich Pflichtlektüre, im Oktober 2016 erscheint ihr neuer Essay Gegen den Hass. Als Journalistin hat Emcke aber auch zahlreiche Krisen- und Kriegsgebiete dieser Welt besucht, eines ihrer großen Themen ist die Zeugenschaft, das Miterleben und Kommunizieren von Gewalt und Leid. 2004 erschien “Von den Kriegen. Briefe an Freunde”, das Berichte u.a. aus dem Kosovo, Nicaragua, Kolumbien oder dem Irak vereint. Wie kann man unaussprechliche Gewalt und Grausamkeit in Worte fassen? Wie überwindet man das Schweigen und das Verdrängen, die Sprachlosigkeit? Carolin Emcke entscheidet sich als Journalistin mit ihrem Buch gegen die nüchterne Reportage und stattdessen für die Briefform. Ursprünglich in englischer Sprache tatsächlich für Freunde und Intellektuelle aus aller Welt verfasst, legen diese Briefe nicht nur strukturelle und kriegsbedingte Gewalt, sondern auch die gelegentlichen Zweifel der Autorin bloß. Die Form erlaubt einen persönlichen Zugang zu Erlebnissen und Geschichten …

Schreiben mit Vargas Llosa

Wie schreibt man eigentlich einen Roman? Worauf kommt es an? Beim großen Traum vom Schriftstellerdasein gerät gelegentlich aus dem Fokus, dass für das Schreiben nicht nur überschäumende Fantasie, sondern auch gewisses Handwerkszeug vonnöten ist, um eine überzeugende Geschichte zu erzählen. In mehreren (fiktiven) Briefen an einen Nachwuchsliteraten gibt Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa Einblick in die Mechanismen des Schreibens. Man erzählt sich, Loriot hätte Evelyn Hamann einst für eine Szene dutzende Male in einen Hundehaufen treten lassen; immer wieder, bis es beiläufig genug aussah. Die hohe Kunst ist es, die Künstlichkeit als solche nicht mehr wahrzunehmen, sondern sich völlig auf die Illusion einlassen zu können, es handle sich um reale Szenen. Das gilt für einen Loriot-Sketch wie für ein gelungenes Buch gleichermaßen. In zwölf unterschiedlich langen Briefen an “einen jungen Schriftsteller” (Briefe an tatsächlich existierende oder erdachte Empfänger zur Entfaltung von persönlichen Gedanken oder eines bestimmten Programms sind nicht selten; man denke an Jean Anouilhs “Briefe an eine junge Dame” oder Rilkes “Briefe an einen jungen Dichter”) öffnet Mario Vargas Llosa gleichsam den literarischen Werkzeugkasten. Unmittelbar …

Åsne Seierstad – Einer von uns

Am 22.Juli 2011 erschüttert der Norweger Anders Behring Breivik die Welt. Weil er sich vor Überfremdung und der Marginalisierung der norwegischen und europäischen Rasse durch Muslime fürchtet, platziert er eine Bombe im Osloer Regierungsviertel und erschießt auf der kleinen Insel Utøya wahllos 69 Menschen, überwiegend Jugendliche. Sie waren dort in einem Sommercamp der norwegischen Sozialdemokraten. Insgesamt fallen ihm 77 Menschen zum Opfer. Åsne Seierstad, Auslandskorrespondentin und Kriegsreporterin, versucht in einem Hybrid aus Roman und Reportage dem Menschen Breivik und seinen Taten nachzuspüren. Kann man Taten wie die von Anders Breivik überhaupt verstehen? Möchte man sie nachvollziehen? Wie nah will man einem Menschen kommen, der in barbarischer Weise für seine kruden politischen Überzeugungen gemordet hat? Verstehenwollen wird zu oft mit Verständnis für den Täter bzw. seine Taten verwechselt; dennoch lohnt es sich in diesem Fall. Anders Breivik wächst allein mit seiner Mutter Wenche und seiner älteren Schwester Elisabeth auf, der Vater verlässt die Familie früh. Anders ist ein unerwünschtes Kind. Seine Mutter, psychisch stark angeschlagen, ist überfordert mit dem Jungen, mit dessen Wut und Launen sie …

David Wagner – Sich verlieben hilft

Wenn man gerade keine Menschen zum Verlieben findet, gibt es reichlich Alternativen. Im jüngst erschienenen Essayband von David Wagner, u.a. Preisträger der Leipziger Buchmesse 2013, werden schlaglichtartig Bücher und Serien besprochen, die einen Blick lohnen. Und obendrein erfahren wir von dem herrlichen Vorgang des Enteselns, den man am besten mit der richtigen Literatur in Gang setzt. Es dürfte nicht vielen passieren, dass sie am Morgen erwachen und denken: “Heute muss ich anfangen, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu lesen.” David Wagner ist es passiert. Und er hat den Gedanken nicht zu einer bloßen Absichtserklärung erstarren, sondern umgehend Taten – heißt: einen Gang in die Buchhandlung – folgen lassen. Proust animiert ihn schließlich, nicht nur annehmbar, sondern anwendbar Französisch zu lernen. Wagner “serendipitiert” (Serendipität: zufälliger Fund von etwas nicht Gesuchtem, das sich als neue Entdeckung erweist) durch Blogs, Zeitungen, online und offline, stößt in einem unendlichen Geflecht aus Informationen immer wieder auf neue Lektüre. Er lässt sich treiben, beraten und beschenken. Liest Roberto Bolaño, Nicholson Baker, Teju Cole, Alexandre Dumas, Raija Siekkinen, Emmanuel Carrère. …

Jon Ronson – So You’ve Been Publicly Shamed

Es zählt zu den großen Errungenschaften moderner Gesellschaften, dass sie den Pranger und öffentliche Auspeitschungen zugunsten eines dem Gesetz verpflichteten Rechtssystems abgeschafft haben. Wir sehen uns regelmäßig Gesellschaften überlegen, die drakonische Strafen wie diese noch immer anwenden. Verfehlungen werden in der Regel nicht mehr von einem wildgewordenen Mob gerächt, sondern je nach Schweregrad in einem Gerichtsverfahren verhandelt. Wenn sich überhaupt von  einem justiziablen Vergehen sprechen lässt und nicht von einem geschmacklosen Witz. Mit dem Aufkommen sozialer Medien allerdings hat etwas eingesetzt, das Jon Ronson in seinem Buch als die “Demokratisierung der Gerechtigkeit” bezeichnet hat. Aber wie weit darf diese Demokratisierung gehen? Ein dummer und gedankenloser Witz auf Twitter oder Facebook kann heute ein Leben für immer verändern. Manchmal genügt auch eine unbedachte Äußerung in der Öffentlichkeit oder ein albernes Foto, um von einer gigantischen Community weltweit abgestraft und zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dafür braucht es keine große eigene Followerschaft, sondern im Zweifelsfalle nur einen aufmerksamen Multiplikator, dessen Urteil innerhalb von Sekundenschnelle tausende andere mobilisiert. Die Namen und Geschichten der Betroffenen sind selbst Jahre nach …

Gila Lustiger – Erschütterung

Etwas über drei Monate sind seit den Pariser Terroranschlägen vom November 2015 vergangen, bei denen knapp 130 Menschen starben. Einer der Attentäter, Salah Abdeslam, ist nach wie vor auf der Flucht. In ihrem Essay “Erschütterung” beleuchtet die Wahlpariserin Gila Lustiger die Ursprünge des Terrors. Was bringt im Westen sozialisierte junge Männer zu Taten wie diesen? Wo liegen politische Versäumnisse? Und kann man in Zukunft solche Katastrophen verhindern? Nach Paris war Fassungslosigkeit. Lagen tiefe Trauer und trotziger “Jetzt erst recht”-Hedonismus nahe beieinander, zeigten sich gar als zwei Seiten derselben Medaille. Auch Gila Lustiger, Autorin und seit 1987 in Paris lebend, trafen die Anschläge tief und unvermittelt. In den Tagen unmittelbar danach kann sie, wie sie schreibt, kaum Abstand von den Nachrichten gewinnen. Sie liest alles, was zu den Anschlägen und den Attentätern veröffentlicht wird, ob wackelige Spekulation oder bestätigte Tatsache. Alles in der Hoffnung, durch mehr Informationen auch zu mehr Verständnis zu gelangen. Je mehr Fakten auf dem Tisch liegen, desto mehr kann man sich überzeugend einbilden, die Lage zu überblicken und die Ungeheuerlichkeit mit kühlem …

Julian Barnes – Am Fenster

Julian Barnes’ 2012 im Original erschienene Essays über Literatur sind kenntnisreich und kurzweilig zugleich. Sie widmen sich vergessenen und unterschätzten Autoren wie Ford Madox Ford oder zur Ikone erstarrten wie George Orwell, beschreiben detailliert die Mühen und Schwierigkeiten einer literarischen Übersetzung oder das eigene Lesen und Wiederentdecken. Sein scharfer Blick und sein Feinsinn machen die Essays zu einem Vergnügen, die Short Story hingegen wirkt eher wie Stopfmaterial. Als Junge ist Julian Barnes ein passionierter Leser, vor allem aber Sammler von Büchern ganz unterschiedlicher Provenienz. Kaum etwas, woran er kein Interesse zeigt und wofür er nicht die umliegenden Antiquariate unsicher macht. Ist das Lesen seiner Kindheit noch ziellos und begierig, entwickelt er später durchaus eine Vorliebe für wertvolle Erstausgaben zum Beispiel von Flaubert oder Dickens. Barnes bewundert die großen Amerikaner: Evelyn Waugh, Graham Greene, Ernest Hemingway. Er saugt die Literatur auf wie ein Schwamm, ohne sich stilistisch oder thematisch zu sehr einzugrenzen. Aus dieser Offenheit resultiert dann auch seine breite literarische Bildung. Ihm liegen verkannte oder missverstandene AutorInnen am Herzen. So spricht er in einem Essay …