{"id":9460,"date":"2015-11-07T08:00:50","date_gmt":"2015-11-07T06:00:50","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=9460"},"modified":"2015-10-31T21:20:50","modified_gmt":"2015-10-31T19:20:50","slug":"daniel-anselme-adieu-paris","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2015\/11\/daniel-anselme-adieu-paris\/","title":{"rendered":"Daniel Anselme – Adieu Paris"},"content":{"rendered":"

Daniel Anselmes Roman ,Adieu Paris’, der im Original schlicht ,Der Fronturlaub’ (franz. ‘La Permission”) hie\u00df, erschien urspr\u00fcnglich bereits 1957 und brachte es niemals zuvor zu einer \u00dcbersetzung. Er verschwand \u00fcberhaupt erstaunlich schnell aus dem Fokus der \u00d6ffentlichkeit und hinterlie\u00df im literarischen Diskurs \u00fcberraschend wenig Spuren. Der Grund daf\u00fcr ist sicherlich u.a. in der f\u00fcr franz\u00f6sische Augen und Ohren unbequemen Thematik des Romans zu suchen: der Algerienkrieg, der zur Zeit der Ver\u00f6ffentlichung noch andauerte.<\/strong><\/p>\n

Drei junge Soldaten haben zehn Tage Fronturlaub und reisen von Algerien in ihre Heimatstadt Paris. Sie sind abgek\u00e4mpft und ersch\u00f6pft, freuen sich auf das Wiedersehen mit ihren Familien und etwas Ausschweifung und Ablenkung von ihren Erlebnissen. Sie sind unterschiedlicher Herkunft, ein Intellektueller, ein Frauenheld und ein Kommunist, aber untrennbar verbunden durch ihr gemeinsames Schicksal. Bereits im Zug treffen sie auf einen franz\u00f6sischen Patrioten, der bereits in anderen Kriegen gedient hat als sie. Er \u00fcberh\u00e4uft sie mit Kriegsanekdoten und Felderlebnissen, politischen Plattit\u00fcden und Stammtischparolen. So habe der Franzose fraglos das Herz am rechten Fleck, w\u00fcrde \u00fcbrhaupt von aller Welt geliebt und d\u00fcrfe Einmischungen etwa in seine Kolonialpolitik von “Russkis” oder “Yankees” unter keinen Umst\u00e4nden dulden. Die Fronturlauber weisen ihn barsch zur\u00fcck. Sie sind nicht aus Vaterlandsliebe in Algerien. Sie suchen Abstand, nicht Verkl\u00e4rung.<\/p>\n

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“Nur weil wir Uniform tragen, m\u00fcssen Sie uns nicht endlos ihre Landsergeschichten auftischen”, sagte Lachaume in demselben Ton. “Wenn Sie einen Kloakenputzer in seinem \u00d6lzeug treffen, liegen Sie dem doch auch nicht mit Ihren Schei\u00dfanekdoten in den Ohren.”<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

In Paris angekommen, sehen sich Lachaume, Valette und Lasteyrie einer Fremdheit gegen\u00fcber, die fast mit H\u00e4nden zu greifen ist. W\u00e4hrend sie, aus ihren Leben gerissen Schreckliches erleben, spielt sich das Leben in Paris wie gewohnt ab. Es ist das Erlebnis der Zwischenweltlichkeit, das die drei jungen M\u00e4nner mit unbarmherziger Faust trifft. Sie f\u00fchlen sich fraglos nicht etwa in Algerien oder im Krieg zuhause, bemerken aber bei ihrer R\u00fcckkehr, dass sie auch in Paris nicht mehr zuhause sind. Lachaume hat seine Frau, mit der es immer schon Konflikte gab, verloren. Als er die gemeinsame Wohnung betritt, ist sie nicht da. Nachdem er Stunden auf die gewartet und umsonst gekocht hat, quartiert er sich in einer billigen Absteige ein. F\u00fcr den Algerienkrieg gibt es seinerzeit kaum eine \u00d6ffentlichkeit. \u00dcber den Verlauf und die Opfer wird nicht gesprochen, ja, gem\u00e4\u00df offizieller Verlautbarungen gibt es keinen Krieg. Lachaume trifft auf einen guten Bekannten, der ihm erkl\u00e4rt, dass diese Auseinandersetzung in Algerien doch kaum Todesopfer fordere. Dass er, Th\u00e9venin, am Steuer seines Wagens wohl demselben Risiko ausgesetzt sei zu Tode zu kommen, wie Lachaume in Algerien.<\/p>\n

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“Was erz\u00e4hlen?”, brummte Lachaume. Panik erfasste ihn beim Gedanken daran, \u00fcber den Algerienkrieg berichten zu m\u00fcssen, hier, inmitten all dieser Leute, die in der Hoffnung, das Gespr\u00e4ch am Nachbartisch sei interessanter als ihr eigenes, so gut wie schweigend a\u00dfen. Nein, er hatte ihnen nichts zu sagen, diesen Leuten, f\u00fcr die er weder Sympathie noch Verachtung empfand.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

In allen Begegnungen Lachaumes mit verschiedenen Vertretern der franz\u00f6sischen Gesellschaft – dem Patrioten, dem gebildeten Normalb\u00fcrger, dem Kommunisten – spiegeln sich falsche Rechtfertigungen, Desinteresse, Sch\u00f6nf\u00e4rberei und Ohnmacht. Bei einem Essen mit der Familie seines Kameraden Valette ist auch ein Vertreter der Kommunisten anwesend, der ihm nichts anderes als Petitionen und B\u00fcrokratie anbietet, um ihn zur\u00fcckzuholen. In den vor\u00fcbergehend Heimgekehrten keimt eine unb\u00e4ndige Wut und Hilflosigkeit angesichts eines Krieges, der offiziell weder existiert noch f\u00fcr die meisten Menschen von Interesse oder Grund f\u00fcr offen artikulierten Widerstand ist. Daniel Anselme (eigentlich: Rabinovitch) zeigte sich seinerzeit insbesondere als Mitglied einer Widerstandsorganisation aus Partisanen, die zur Kommunistischen Partei geh\u00f6rte, von den Kommunisten entt\u00e4uscht. Diese Entt\u00e4uschung ist dem Roman anzumerken. Literarisch hat sich der Algerienkrieg kaum niedergeschlagen – Beispiele von Anselmes Roman abgesehen sind u.a. Alexis Jennis “Die franz\u00f6sische Kunst des Krieges” und Laurent Mauvigniers “Die Wunde”. Umso wichtiger und erfreulicher ist es, dass mit “Adieu Paris” nun ein weiterer eindringlicher Roman von den Erlebnissen der Soldaten berichtet. Erlebnissen, die nicht im Krieg selbst stattfinden, sondern au\u00dferhalb, in der Konfrontation mit der Heimat und ihrem Umgang mit den weit entfernten Schrecken.<\/p>\n

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Auf je eigene Weise verstand ein jeder am Tisch, dass das Gespenst des Krieges das Zimmer betreten hatte und in seiner Gegenwart jede Geste ungeh\u00f6rig war, sei sie auch noch so banal und berechtigt, wie etwa der Griff nach dem Brot.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

,Adieu Paris’ ist ein eindrucksvoller, lohnenswerter und schmerzhafter Roman \u00fcber ein Kapitel franz\u00f6sischer Geschichte, das viele Jahrzehnte weder abgeschlossen noch bearbeitet wurde – aus der Sicht derer, die es am unmittelbarsten betroffen hat. In ihrem fachkundigen Nachwort schreibt Julia Schoch: “Erst 1999 wurde der Begriff Algerienkrieg \u00fcberhaupt offiziell erlaubt.<\/em>” und “Erst vierzig Jahre nach Kriegsende, im Dezember 2002, an einem bewusst unhistorischen Tag, weihte der damalige Pr\u00e4sident Jacques Chirac am Quai Branly in Paris das ,M\u00e9morial de la guerre d’Alg\u00e9rie’, ein zentrales nationales Denkmal, ein<\/em>.”<\/p>\n

\""buchhandel.de\/\"<\/a>Daniel Anselme: Adieu Paris<\/span><\/strong>
\n Aus dem Franz\u00f6sischen von Julia Schoch<\/span>
\n
Arche Verlag<\/a>,
\n208 Seiten<\/span>
\n18,00 \u20ac<\/span><\/span><\/p>\n

Bestellen bei:<\/em>
\n
\"Buchhandel.de\"<\/a><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Daniel Anselmes Roman ,Adieu Paris’, der im Original schlicht ,Der Fronturlaub’ (franz. ‘La Permission”) hie\u00df, erschien urspr\u00fcnglich bereits 1957 und brachte es niemals zuvor zu einer \u00dcbersetzung. Er verschwand \u00fcberhaupt erstaunlich schnell aus dem Fokus der \u00d6ffentlichkeit und hinterlie\u00df im literarischen Diskurs \u00fcberraschend wenig Spuren. Der Grund daf\u00fcr ist sicherlich u.a. in der f\u00fcr franz\u00f6sische Augen und Ohren unbequemen Thematik des Romans zu suchen: der Algerienkrieg, der zur Zeit der Ver\u00f6ffentlichung noch andauerte. Drei junge Soldaten haben zehn Tage Fronturlaub und reisen von Algerien in ihre Heimatstadt Paris. Sie sind abgek\u00e4mpft und ersch\u00f6pft, freuen sich auf das Wiedersehen mit ihren Familien und etwas Ausschweifung und Ablenkung von ihren Erlebnissen. Sie sind unterschiedlicher Herkunft, ein Intellektueller, ein Frauenheld und ein Kommunist, aber untrennbar verbunden durch ihr gemeinsames Schicksal. Bereits im Zug treffen sie auf einen franz\u00f6sischen Patrioten, der bereits in anderen Kriegen gedient hat als sie. Er \u00fcberh\u00e4uft sie mit Kriegsanekdoten und Felderlebnissen, politischen Plattit\u00fcden und Stammtischparolen. So habe der Franzose fraglos das Herz am rechten Fleck, w\u00fcrde \u00fcbrhaupt von aller Welt geliebt und d\u00fcrfe Einmischungen …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":9461,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[2117,2118,2116],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2015\/10\/anselme.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/9460"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=9460"}],"version-history":[{"count":8,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/9460\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":9481,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/9460\/revisions\/9481"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/9461"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=9460"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=9460"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=9460"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}