{"id":9274,"date":"2015-09-17T10:47:28","date_gmt":"2015-09-17T08:47:28","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=9274"},"modified":"2015-09-17T10:47:28","modified_gmt":"2015-09-17T08:47:28","slug":"sigismund-krzyzanowski-der-club-der-buchstabenmoerder","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2015\/09\/sigismund-krzyzanowski-der-club-der-buchstabenmoerder\/","title":{"rendered":"Sigismund Krzyzanowski – Der Club der Buchstabenm\u00f6rder"},"content":{"rendered":"

Im Club der Buchstabenm\u00f6rder treffen M\u00e4nner unter der Pr\u00e4misse zusammen, ihre kreativen Einf\u00e4lle und literarischen Fantasien auf keinen Fall in schriftlicher Form zu Papier zu bringen. Gewissheit t\u00f6tet Freiheit, Tinte auf Papier Ideen. Indem sie ihnen eine Leine um den Hals legt und sie damit in eine strenge Form n\u00f6tigt. So treffen sich also diese Herren unter der Schirmherrschaft eines einstmals bekannten und gefragten Schriftstellers samst\u00e4glich in trauter Runde, um sich nach Boccaccio-Manier Geschichten zu erz\u00e4hlen.<\/strong><\/p>\n

Die Werke Sigismund Krzyzanowskis sind, trotzdem er seinerzeit einige bekanntere F\u00fcrsprecher hatte, bis heute den meisten unbekannt. Sie werden aufgrund ihrer phantastisch-d\u00fcsteren F\u00e4rbung h\u00e4ufig verglichen mit Kafka, Poe, E.T.A. Hoffmann oder Borges, was sich im Mitte der 1920er geschriebenen \u201eDer Club der Buchstabenm\u00f6rder\u201c deutlich widerspiegelt. Durch den Tod seiner Mutter gezwungen, den Gro\u00dfteil seiner Privatbibliothek zu ver\u00e4u\u00dfern, um zur Beerdigung zu reisen, sieht sich ein Schriftsteller pl\u00f6tzlich mit der inspirierenden Kraft der Leere konfrontiert. W\u00e4hrend er anfangs noch versucht, bekannte Geschichten wie Cervantes’ Don Quijote so gut es geht vor dem leeren Regal zu rekapitulieren, entwickeln seine Fantasien ein Eigenleben. Immer mehr Eigenes flie\u00dft in die innere Nacherz\u00e4hlung ein, bis schlie\u00dflich v\u00f6llig neue Geschichten entstehen. Plagte ihn vor dieser Entdeckung noch die schriftstellerische Erfolglosigkeit, werden seine neu \u00fcberarbeiteten Manuskripte nun nicht mehr zur\u00fcckgeschickt, sondern gedruckt. Aber die Arbeitswut, die flie\u00dfbandartige Buchstabenaussch\u00fcttung t\u00f6tet seine Kreativit\u00e4t. Er beschlie\u00dft, keine einzige Idee mehr zu verschriftlichen und nur noch im Ideellen seine Geschichten zu erfinden. Der Club der Buchstabenm\u00f6rder ist geboren.<\/p>\n

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Schriftsteller sind im Grunde professionelle W\u00f6rterdompteure, und w\u00e4ren die W\u00f6rter, die die Zeile entlanglaufen, lebendige Wesen, w\u00fcrden sie die Spitze der Feder wohl ebenso f\u00fcrchten und hassen wie dressierte Tiere die gegen sie erhobene Peitsche.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Die Teilnehmer dieser exklusiven Runde legen an der T\u00fcrschwelle ihre Namen ab. F\u00fcr gro\u00dfe Schriftstellernamen sei dort kein Platz, wo man Festlegung und Erstarrung scheue. Sie alle werden mit \u201esinnlosen Silben\u201c bezeichnet; konkret: einem Vokal werden zwei Konsonanten an die Seite gestellt, das entstehende Konstrukt wird von wom\u00f6glich zuf\u00e4lliger Bedeutung bereinigt und herauskommen Namen wie Tyd, Ses, Hiz oder Hok. An jedem Samstag erz\u00e4hlt ein anderer, nur von gelegentlich kritischen Einw\u00fcrfen der anderen unterbrochen. Von Shakespeares Hamlet und der Emanzipation einer Rolle \u2013 Krzyzanowski verfasste Studien \u00fcber Shakespeare und war f\u00fcr so eine Spielerei mit Realit\u00e4t und Rolle daher bestens ausger\u00fcstet* -, von einer mittelalterlichen Eselsmesse<\/a>, die allj\u00e4hrlich Einladung zur Ausschweifung und Grund zur Beichte war, von einem wandernden Goliard<\/a>, der die T\u00e4tigkeiten eines Gauklers und eines M\u00f6nchs miteinander verband. Die l\u00e4ngste Erz\u00e4hlung rankt sich um sogenannte Exen, Maschinenmenschen, deren Handeln von Zentralcomputern aus gesteuert wird. Anfangs als Mittel gegen Geisteskrankheit entwickelt, zieht es weite Kreise innerhalb der Gesellschaft, es existiert keine Verbindung mehr zwischen Psyche und K\u00f6rper. Wie lebende Tote schlurfen die Exen durch die St\u00e4dte. Es f\u00e4llt nicht schwer, darin den offensichtlichen Ausdruck einer totalit\u00e4ren Gesellschaft zu sehen, in der ein Zentralorgan, sei es maschineller oder menschlicher Natur, Marsch \u2013 und Denkrichtung vorgibt.<\/p>\n

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Jeder Muss seine Wahl treffen. Manche haben das bereits getan: Einige haben den Kampf um die Existenz gew\u00e4hlt, anderen den Kampf um die Nichtexistenz.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Krzyzanowski pr\u00e4sentiert in den Buchstabenm\u00f6rdererz\u00e4hlungen eine riesige Bandbreite von fantastischen, philosophischen oder religi\u00f6sen Anspielungen, die zu entziffern nicht jedem gelingen wird. \u201eDer Club der Buchstabenm\u00f6rder\u201c lebt von seiner Fabulierlust, seinen Querbez\u00fcgen, Denkfiguren und Einladungen teilzunehmen an diesem Erz\u00e4hlkreis, der seine Ideen verzweifelt allein durch die m\u00fcndliche Weitergabe am Leben zu halten versucht. Aber im Laufe der Zeit werden auch die Geschichten immer d\u00fcsterer, sie enden unweigerlich mit dem Tod, so wie der Tod auch in die Gruppe Einzug h\u00e4lt. Krzyzanowskis Roman ist sprachlich und stilistisch ein Hochgenuss, jedoch kein Buch f\u00fcr jedermann. Ihn zu entschl\u00fcsseln, erfordert hier und dort kulturelle Kenntnis oder Bereitschaft. Ihn zu genie\u00dfen nicht unbedingt. Krzyzanowski, nach einem Schlaganfall 1949 unf\u00e4hig, Buchstaben zu entziffern, hei\u00dft: zu lesen, ist ein gl\u00e4nzender Erz\u00e4hler, der sich hinter ber\u00fchmteren Landsleuten wie Michail Bulgakow nicht verstecken muss.<\/p>\n

Sigismund Krzyzanowski: Der Club der Buchstabenm\u00f6rder, aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg, D\u00f6rlemann Verlag<\/a>, 224 Seiten, 9783038200192<\/span>, 20,00 \u20ac<\/span><\/p>\n

* man k\u00f6nnte auch leise Ankl\u00e4nge an Luigi Pirandellos<\/a> spielerischen Umgang mit Identit\u00e4t entdecken.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Im Club der Buchstabenm\u00f6rder treffen M\u00e4nner unter der Pr\u00e4misse zusammen, ihre kreativen Einf\u00e4lle und literarischen Fantasien auf keinen Fall in schriftlicher Form zu Papier zu bringen. Gewissheit t\u00f6tet Freiheit, Tinte auf Papier Ideen. Indem sie ihnen eine Leine um den Hals legt und sie damit in eine strenge Form n\u00f6tigt. So treffen sich also diese Herren unter der Schirmherrschaft eines einstmals bekannten und gefragten Schriftstellers samst\u00e4glich in trauter Runde, um sich nach Boccaccio-Manier Geschichten zu erz\u00e4hlen. Die Werke Sigismund Krzyzanowskis sind, trotzdem er seinerzeit einige bekanntere F\u00fcrsprecher hatte, bis heute den meisten unbekannt. Sie werden aufgrund ihrer phantastisch-d\u00fcsteren F\u00e4rbung h\u00e4ufig verglichen mit Kafka, Poe, E.T.A. Hoffmann oder Borges, was sich im Mitte der 1920er geschriebenen \u201eDer Club der Buchstabenm\u00f6rder\u201c deutlich widerspiegelt. Durch den Tod seiner Mutter gezwungen, den Gro\u00dfteil seiner Privatbibliothek zu ver\u00e4u\u00dfern, um zur Beerdigung zu reisen, sieht sich ein Schriftsteller pl\u00f6tzlich mit der inspirierenden Kraft der Leere konfrontiert. W\u00e4hrend er anfangs noch versucht, bekannte Geschichten wie Cervantes’ Don Quijote so gut es geht vor dem leeren Regal zu rekapitulieren, entwickeln seine Fantasien ein …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":9275,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[1903,16,839],"tags":[2086,1721,2085],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2015\/09\/krzyzanowski.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/9274"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=9274"}],"version-history":[{"count":2,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/9274\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":9277,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/9274\/revisions\/9277"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/9275"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=9274"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=9274"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=9274"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}