Das grenzenlose Und ist f\u00fcr Marie das unselige Dazwischen. Die Welt, die immer aus zwei Polen besteht, ohne sich verbindlich auf nur einen von beiden festzulegen. Obwohl sie selbst voller Widerspr\u00fcche steckt, kann sie die Widerspr\u00fcche der Welt nicht aushalten. Marie leidet unter einer Borderline-St\u00f6rung, lebt in einer betreuten Wohngruppe und liest Ciorans ,Vom Nachteil, geboren zu sein’. Sandra Weihs’ Deb\u00fct erz\u00e4hlt von einer Wiederentdeckung des Lebens, wo man es am wenigsten vermutet: im Angesicht des Todes.<\/strong><\/p>\n Aus ihrem Zimmer dr\u00f6hnt System of a Downs ,Toxicity’, Rasierklingen sind meistens in Reichweite und Hoffnung ist etwas f\u00fcr unheilbare Realit\u00e4tsverweigerer, nicht f\u00fcr Marie. Sie leidet unter einer emotional-instabilen Pers\u00f6nlichkeitsst\u00f6rung vom Borderline-Typus. Borderline ist mittlerweile, au\u00dferhalb der Literatur, eine sehr stigmatisierte Diagnose, die f\u00fcr die meisten schlicht “selbstverletzendes Verhalten” bedeutet und besonders in Zeiten der Pubert\u00e4t grassiert wie eine hochansteckende Krankheit. Auch Marie verletzt sich selbst, oft in Situationen, in denen sie ihre Mutter in sich erkennt, in denen sie alle Verbindungen zu dieser Frau trennen will. Verbindungen, die in Fleisch und Blut liegen, wie sie glaubt. Ihre Mutter ist eine Trinkerin, unberechenbar und aufbrausend. Ein falsches Wort, eine unvorsichtige Bewegung kann den Vulkan zum Ausbruch bringen und jede eben noch harmonische Situation von grundauf zerst\u00f6ren. Marie hat nie gelernt, was es bedeutet, gehalten und gesch\u00fctzt zu werden, sich auf jemanden zu verlassen. Ihre Mutter war ihre Welt und wie die Welt barg die Mutter unvereinbare Widerspr\u00fcche, zwei Gesichter, die sich unm\u00f6glich miteinander in Einklang bringen lie\u00dfen.<\/p>\n Mit jedem Zentimeter Haut, den ich durchtrenne, gebe ich ihr einen Zentimeter der Schuld zur\u00fcck. Mit jedem Tropfen Blut, der aus der Wunde tritt, wird das B\u00f6se in mir weniger, das B\u00f6se, das ich von meiner Mutter erhalten habe und das ich aus mir herausbluten m\u00f6chte. Ich will meine Mutter sp\u00fcren lassen, dass sie Schuld hat an mir und daran, wie ich bin.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n Marie besucht regelm\u00e4\u00dfen ihren Therapeuten, genannt “Willi”, der vergleichsweise unkonventionelle Methoden anwendet, um seine Patientin auf den richtigen Weg zu f\u00fchren. Mit viel Humor und Schauspielkunst, mit verschiedenfarbigen Sofas und markigen Spr\u00fcchen versucht er die harte Schale des M\u00e4dchens zu brechen, das keinen Moment an die Hoffnung verschwendet, eines Tages ein normales Leben f\u00fchren zu k\u00f6nnen. Das \u00e4ndert sich schlagartig, als sie den Jungen mit den Rehaugen kennenlernt. Emmanuel lebt zusammen mit seiner Gro\u00dfmutter in einem ehemaligen Bordell, das sie einst mit strenger Hand betrieben hat. Auch Emmanuel kommt zu “Willi”, in dessen Wartezimmer die beiden sich kennenlernen. Mit dem kleinen hauchfeinen Unterschied, dass Emmanuel nicht sterben will, sondern sterben muss: er hat einen Hirntumor. Er \u00fcberredet Marie, ihm die Angst vor dem Tod zu nehmen. Und w\u00e4hrend er die Angst verlieren will, sp\u00fcrt Marie sie zum ersten Mal in ihrem Leben.<\/p>\n Es gibt gut UND schlecht. Vor allem das UND gibt es. Und das ist grenzenlos, weil es verbindet, und immer alles ist, weil es das Dazwischen ist und in das Gute und das Schlechte eindringt und deren Grenzen sprengt, deswegen ist die Welt das grenzenlose Und. Wenn der eine meint, etwas ist gut, kann der andere meinen, dasselbe ist schlecht. Wie soll man sich da auskennen? Die Welt ist ein Dazwischen. Mich zerrei\u00dft dieses Dazwischen.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n Empathisch, humorvoll und charmant beschreibt Sandra Weihs, die selbst Sozialarbeit studierte und mit Kindern und Jugendlichen aus schwierigen Verh\u00e4ltnissen arbeitete, den Kurswechsel der jungen Marie. Was muss geschehen, damit einem der Tod nicht mehr stetig offengehaltener Notausgang ist? F\u00fcr Marie ist es nicht nur die direkte Konfrontation mit ihm im unmittelbaren Umfeld, sondern auch die Erfahrung, Menschen nah zu sein, in der Welt einen Platz zu haben, dessen Leere jemandem weh tun w\u00fcrde. Freilich sollte niemand von diesem Deb\u00fctroman eine pr\u00e4zise Schilderung der Borderlinest\u00f6rung erwarten, Auswirkungen und Ursachen von Maries Situation laufen mehr als Taktgeber im Hintergrund mit. Auch eine Therapie wird selten so auf verschiedenfarbigen Pl\u00fcsch – und Ledersofas mit etwas \u00fcberdrehten Thrapeuten abgehandelt. Dennoch entwickelt Sandra Weihs, deren Sprache pr\u00e4zise und treffsicher die Fallstricke Maries zu beschreiben wei\u00df, eine Geschichte, die trotz mancher \u00dcberzeichnung zu fesseln versteht. Nicht \u00fcberall, wo wir sie wirklich vermuten, ist auch Endstation, manchmal geht es nach der Kurve weiter. ,Das grenzenlose Und’ ist vielleicht weniger ein Coming-of-Age<\/em> als ein ,Coming to Life<\/em>‘-Roman.<\/p>\n Auch Nina von Frau Hauptsachebunt hat ,Das grenzenlose Und<\/a>‘ gelesen.<\/p>\n\n
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