{"id":8826,"date":"2015-07-19T14:27:41","date_gmt":"2015-07-19T12:27:41","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=8826"},"modified":"2015-07-19T14:27:41","modified_gmt":"2015-07-19T12:27:41","slug":"harper-lee-gehe-hin-stelle-einen-waechter","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2015\/07\/harper-lee-gehe-hin-stelle-einen-waechter\/","title":{"rendered":"Harper Lee – Gehe hin, stelle einen W\u00e4chter"},"content":{"rendered":"

1961 erhielt Harper Lee f\u00fcr ihren Roman ,Wer die Nachtigall st\u00f6rt’ den Pulitzerpreis. F\u00fcr die Jugendfreundin Truman Capotes sollte es der einzige literarische Erfolg bleiben, kein anderes Buch von ihr hat je das Licht der Welt erblickt, sodass \u00fcber die Jahre schon Ger\u00fcchte aufkamen, Truman Capote k\u00f6nne am Buch beteiligt gewesen sein. Ihr Deb\u00fct blieb verschollen in irgendeiner Schublade – bis zum September 2014. Dieser \u00fcberraschenden Entdeckung verdanken wir nun ,Gehe hin, stelle einen W\u00e4chter’, das soeben erschienen ist. <\/strong><\/p>\n

,Wer die Nachtigall st\u00f6rt’ ist, trotz manch konservativer Gegenmeinung in den Vereinigten Staaten, ein moderner Klassiker. Die Popularit\u00e4t dieser wohligen S\u00fcdstaatengeschichte um Anwalt Atticus Finch und seine Kinder Jem und Scout ist nicht erst seit der Verfilmung mit Gregory Peck aus dem Jahr 1962 ungebrochen. Es beschw\u00f6rt das Aufwachsen in einer Welt, in der rassistische \u00dcberzeugungen salonf\u00e4hig waren. Zeiten, in der das Wort “Nigger” nichts Anr\u00fcchiges hatte oder wenigstens niemand sich dazu berufen f\u00fchlte, gegen menschenverachtende Meinungen zu opponieren, weil die Ungleichheit zwischen schwarz und wei\u00df nunmal naturgegeben oder gottgewollt war. Abgesehen vielleicht von Atticus Finch, der nach dem Tod seiner Frau seine beiden Kinder allein gro\u00dfzieht und dabei zu mehr Umsicht und Toleranz anh\u00e4lt als die meisten seiner Zeitgenossen. Als ein Schwarzer namens Tom Robinson wegen Vergwaltigung vor Gericht steht, ist es Atticus Finch, der ihn verteidigt. Die Geschichte ist bekannt. Und wir dachten, Atticus Finch sei ein Held, ein Vork\u00e4mpfer f\u00fcr Gerechtigkeit, unabh\u00e4ngig von Rasse, Herkunft oder Geschlecht.<\/p>\n

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Atticus widmete sich diesem Fall nicht nur mit allen seinen F\u00e4higkeiten, sondern auch mit einer instinktiven, erbitterten Abneigung, die er allein durch das Wissen \u00fcberwand, dass er nur so weiter mit sich selbst in Frieden leben konnte.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

So hei\u00dft es jetzt in ,Gehe hin, stelle einen W\u00e4chter’, das von Harper Lee zwar vor ihrem Welterfolg geschrieben wurde, zeitlich aber deutlich nach dem Prozess Tom Robinsons angelegt ist. Jean Louise, ehemals “Scout” genannt, ist sechsundzwanzig Jahre alt und lebt mittlerweile in New York. Ihr Bruder Jem ist zu fr\u00fch gestorben. Atticus ist \u00fcber siebzig und leidet an Arthritis, seine Schwester Alexandra hat sich bei ihm einquartiert, um ihm zur Hand zu gehen. Als Jean Louise in diesem Sommer ihre Heimat Maycomb County wieder einmal besucht, unbedarft und noch immer recht hemds\u00e4rmelig und burschikos f\u00fcr die 50er-Jahre, entdeckt sie pl\u00f6tzlich Seiten an ihrer Familie und den Bewohnern der Kleinstadt, die sie zutiefst ersch\u00fcttern. So hat sich ein B\u00fcrgerrat gebildet, der die Emanzipation der Schwarzen in geregelte Bahnen zu lenken und den Einfluss der NAACP (National Association for the Advancement of Coloured People) gering zu halten versucht. Dieser B\u00fcrgerrat bietet rassistischen Wanderpopulisten ein Forum, die sich von einer aufkommenden B\u00fcrgerrechtsbewegung in Identit\u00e4t und Souver\u00e4nit\u00e4t bedroht und beschnitten f\u00fchlen. Mitten in diesem B\u00fcrgerrat: Jean Louises Vater Atticus und ihr Beinahe-Verlobter Henry Clinton.<\/p>\n

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Mr.Stone hat gestern in der Kirche einen W\u00e4chter erw\u00e4hnt. Er h\u00e4tte mir einen zur Seite stellen sollen. Ich brauche einen W\u00e4chter, der mich begleitet, auf dass er mir zu jeder vollen Stunde ansage, was er da schaue. Ich brauche einen W\u00e4chter, der mir erkl\u00e4rt, was ein Mann wirklich meint, wenn er etwas sagt, einen W\u00e4chter, der in der Mitte einen L\u00e4ngsstrich zieht und sagt, das ist die eine Gerechtigkeit, und das ist die andere Gerechtigkeit, und mir dann den Unterschied verst\u00e4ndlich macht.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Jean Louise ist fassungslos und sieht sich pl\u00f6tzlich \u00dcberzeugungen gegen\u00fcber, die niemals ihre eigenen waren. Der Rassismus grassiert wie ein Virus unter den Bewohnern von Maycomb und wird \u00fcberraschend wenig hinterfragt. Als sie ihren geliebten Henry zur Rede stellt, pl\u00e4diert der auf st\u00e4dtische und gesellschaftliche Verpflichtungen zugunsten der Karriere. Er ist ein Opportunist, der das Beste f\u00fcr sich herauszuholen versucht. In einem nahezu kathartischen Disput mit Atticus, der Fragen stellt wie: “Willst du scharenweise Neger in unseren Schulen und Kirchen und Theatern? Willst du sie in unserer Welt?<\/em>“, wird ihr pl\u00f6tzlich bewusst, dass ihr Vater niemals der reine und gottgleiche Gerechte gewesen ist, f\u00fcr den sie ihn seit ihrer Kindheit hielt. Auch er meint, die Rechte f\u00fcr Schwarze d\u00fcrften nicht pl\u00f6tzlich dieselben sein wie f\u00fcr Wei\u00dfe, schlie\u00dflich seien die Schwarzen r\u00fcckst\u00e4ndig und unf\u00e4hig, sich Regierungsgesch\u00e4ften zu widmen. Lie\u00dfe man sie gew\u00e4hren, w\u00fcrden sie in Scharen politische Posten besetzen und das Land, von dem sie keine Ahnung haben, in den Ruin treiben. Der R\u00fcckst\u00e4ndigkeit der Schwarzen stimmt Jean Louise indessen zu, au\u00dferdem erz\u00fcrnt sie eine Entscheidung des Obersten Bundesgerichts, die den Zehnten Zusatzartikel der Verfassung untergr\u00e4bt. Hier geht es um die Souver\u00e4nit\u00e4t der Einzelstaaten. Jeder Bundesstaat solle doch, so ihre Ansicht, mit seinen Menschen (seinen Schwarzen) so verfahren d\u00fcrfen, wie er es f\u00fcr richtig halte. Indem die Rassentrennung aufgehoben ist und Schwarze das Wahlrecht erhalten, wird das Selbstbestimmungsrecht in diesen Belangen bedeutungslos. Dennoch k\u00e4mpft Jean Louise gegen die ganz eigene R\u00fcckst\u00e4ndigkeit ihres Vaters, eigentlich will sie, in ihren Grundfesten ersch\u00fcttert, die Koffer packen und Maycomb wie auch seinen Bewohnern den R\u00fccken kehren. Ihr etwas skurriler Onkel aber stoppt ihre Wut, indem er ihr eine Ohrfeige verpasst – und ihr zur Emanzipation von ihrem Vater gratuliert.<\/p>\n

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Willst du, dass unsere Kinder auf eine Schule gehen, deren Niveau gesenkt wurde, um es den Negerkindern anzupassen?<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Die Prognose, dass Harper Lee mit diesem Erstlingswerk mutma\u00dflich nicht den Pulitzerpreis gewonnen h\u00e4tte, muss eben das bleiben: eine Mutma\u00dfung. Jedoch ist die Geschichte insgesamt nicht nur in ihren Haltungen antiquiert, allenfalls k\u00f6nnte man sie als historisch lesen, als Zeugnisse der S\u00fcdstaaten in den 50ern, sondern auch in ihrem ganzen Aufbau. Ein junges M\u00e4dchen kehrt in den Ferien zu seinem Vater zur\u00fcck, stolpert \u00fcber dessen rassistische \u00dcberzeugungen und arrangiert sich schlie\u00dflich irgendwie doch damit, weil sie begriffen hat, dass ihr Vater nicht unfehlbar und seine Meinungen nicht unantastbar sind. Ihre Fassungslosigkeit legt sich erstaunlich schnell nach dem Schlag ihres Onkels, pl\u00f6tzlich hat sie Atticus gegen\u00fcber gar ein schlechtes Gewissen. Ihren Geliebten wird sie nun doch nicht heiraten, wie ihr auch von Vornherein von ihrer Tante empfohlen wurde: er sei eben nicht ihresgleichen. Am Ende ist ein literarischer K\u00e4mpfer f\u00fcr Gerechtigkeit auf Dauer demontiert, ein junges M\u00e4dchen gez\u00e4hmt und in die richtigen Bahnen gelenkt, alles am rechten Platz und steter Lauf der Dinge. Das ist in seiner Schicksalsergebenheit und seinem Dogmatismus f\u00fcr heutige Zeiten tief entt\u00e4uschend, literarisch allenfalls Mittelma\u00df. Nach einigen holprigen Dialogen zu Anfang hat sich Harper Lee zwar aufgew\u00e4rmt, ihr Stil ist gewinnend und leicht lesbar, aber er kann das gro\u00dfe Ganze nicht retten. Der W\u00e4chter eines jeden Menschen sei sein eigenes Gewissen, sagt man ihr. Ein kollektives Gewissen g\u00e4be es nicht. Und so, schlussfolgert man nach der Lekt\u00fcre, gibt es eben auch keine Gerechtigkeit, sondern wohl nur unterschiedliche Meinungen dar\u00fcber, wer sie verdient.<\/p>\n

Harper Lee: Gehe hin, stelle einen W\u00e4chter, aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel, DVA<\/a>, 320 Seiten, 9783421047199, 19,99 \u20ac<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

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