{"id":8816,"date":"2015-07-13T21:42:19","date_gmt":"2015-07-13T19:42:19","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=8816"},"modified":"2015-07-13T21:42:19","modified_gmt":"2015-07-13T19:42:19","slug":"jens-steiner-junger-mann-mit-unauffaelliger-vergangenheit","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2015\/07\/jens-steiner-junger-mann-mit-unauffaelliger-vergangenheit\/","title":{"rendered":"Jens Steiner – Junger Mann mit unauff\u00e4lliger Vergangenheit"},"content":{"rendered":"

In Jens Steiners neuem Roman \u00fcberst\u00fcrzen sich die Dinge nicht selten in loriot’scher Zimmerverw\u00fcstungsdynamik. Eines greift unwillentlich ins n\u00e4chste, was urspr\u00fcnglich eine politische Aktion war, wird pl\u00f6tzlich zur unfreiwilligen Familienzusammenf\u00fchrung. Und zwischen allem und jedem: Schopenhauers Pudel und ein descartscher Homunkulus. Dieses Tableau an Skurrilit\u00e4ten ist zwar genauso absurd wie es klingt, macht deshalb aber mitnichten weniger Spa\u00df.<\/strong><\/p>\n

Eigentlich ist Paul K\u00fcbler ein ganz normaler Philosophiestudent. Gemeinsam mit seinem Freund Magnus bildet er gewisserma\u00dfen eine eigene Einheit innerhalb der Studentenschaft. Die beiden nehmen ihr Studium und seine Inhalte nicht ganz so verbissen, lesen statt Parmenides auch Perry Rhodan und tun sich gelegentlich mit manch scharfsinniger Betrachtung ihres Umfelds hervor. Ihr gr\u00f6\u00dfter Coup soll ihnen aber gelingen, als Medienmogul Henri Kudelka sich f\u00fcr einen Vortrag auf dem Universit\u00e4tsgel\u00e4nde ank\u00fcndigt. Er, dem nachgesagt wird, dass er mehrere Zeitungen besitzt und kontrolliert, will zur Zukunft der Printmedien im 21.Jahrhundert referieren. Das stachelt die beiden Sonderlinge zu einer politisch-motivierten Aktion an, die beweisen soll, wes Geistes Kind Kudelka tats\u00e4chlich ist. N\u00e4mlich einer, der Macht hat und Macht nutzt, um \u00f6ffentliche Meinung zu bilden. Sie treiben einen alten Vortrag von ihm auf und spielen ihn ab, als Kudelka gerade aufs Podium tritt, um zu den Studenten zu sprechen. Wie kalkuliert und erwartet wird Kudelka nicht nur f\u00fcr seine Heuchelei ausgepfiffen, sondern auch entf\u00fchrt. Wie Paul wenig sp\u00e4ter in der muffigen Wohnung seines Nachbarn feststellt, offensichtlich von ihm selbst.<\/p>\n

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Es schien mir unm\u00f6glich, mich jemals wieder durch die Welt zu bewegen. Immer war da Sinn um mich herum gewesen, und ich selber hatte f\u00fcr den Unsinn gesorgt. Nun war ich mit einem fremden Unsinn konfrontiert, und meine Verachtung hatte kein Ziel mehr.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Ihm immer mal wieder (hilflos) zur Seite steht ein kleines M\u00e4nnchen, der Homunkulus. Er ist so etwas wie der materialisierte Geist in Paul K\u00fcblers, in unser aller Kopf, der uns die Welt erkl\u00e4rt. Descartes, so erkl\u00e4rt es auch Magnus seinem Freund Paul zu Beginn, forschte zur Wahrnehmung und kam, wie nicht wenige vor ihm in \u00e4hnlicher Weise, zu dem Schluss, dass wir nicht tats\u00e4chlich sehen, was ist. Wir machen etwas daraus. Das Bild unserer Augen wird auf die Netzhaut zur\u00fcckgeworfen, erst dort nehmen wir es wahr. Der Homunkulus ist das kleine Wesen, das uns erkl\u00e4rt, was auf unserer inneren Leinwand abl\u00e4uft. Und was es bedeutet. Nur dass K\u00fcblers Homunkulus \u00e4hnlich ahnungslos ist wie er selbst, – was entweder sehr deprimierend oder sehr erleichternd ist, je nach Perspektive. Es verschl\u00e4gt Paul K\u00fcbler mit neuem Pass, schlie\u00dflich wird er f\u00fcr die Kudelka-Entf\u00fchrung landesweit gesucht, als Pablo Escobar aus Z\u00fcrich nach Frankreich. Es geh\u00f6rt zu den ironischen Volten, die der Roman schl\u00e4gt, dass K\u00fcbler mit ausgerechnet diesem Decknamen unbehelligt durch die Lande reisen kann.<\/p>\n

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Schmerz ist etwas Eigenartiges. Immer tr\u00e4gt er auch ein K\u00f6rnchen Wohlgef\u00fchl in sich.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Man merkt Jens Steiner, der 2013 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde und mit seinem Roman ,Carambole<\/em>‘ im selben Jahr auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, nicht nur das Philosophiestudium, sondern auch die ungebremste Lust am Fabulieren an. Der Roman steckt nicht nur voller skuriller Einf\u00e4lle und Anspielungen auf philosophische Denkans\u00e4tze, sondern endet schlie\u00dflich, als er Kudelka tats\u00e4chlich entf\u00fchrt und nicht f\u00e4lschlicherweise beschuldigt wird, mit der Frage: Wie wollen wir leben? In einer Situation, die wohl ihre filmische Entsprechung in ,Die fetten Jahre sind vorbei’ f\u00e4nde, prallen Generationen und Wertvorstellungen aufeinander. Kudelka, der bereit ist, f\u00fcr sein finanziell abgesichertes Leben so einige Kompromisse zu machen. K\u00fcbler, der sich in seinem moralisch abgesicherten Leben den Idealismus leistet. Vorerst jedenfalls. Steiners Roman ist mit seinen philosophischen Querverweisen, seinen gro\u00dfen Fragen nach Wahrnehmung und Lebensgestaltung, nicht unbedingt das, was man leicht zug\u00e4nglich nennt. Aber es gelingt ihm mit seinem eigensinnig-charmanten Humor die klugen Gedanken nahezu anstrengungslos unterzuheben. Man m\u00fcht sich nicht ab, vielmehr wird man hineingeworfen in diesen Irrsinn wie man ja bekannterma\u00dfen auch ins Leben geworfen wird. Das ist nicht immer sch\u00f6n, aber gelegentlich lernt man etwas dabei. ,Junger Mann mit unauff\u00e4lliger Vergangenheit’ d\u00fcrfte eher eine Freude f\u00fcr etwas experimentellere Leser sein, die sich nicht vor grobem Unfug scheuen. Denn wenn man ein bisschen siebt, findet man feine K\u00f6rnchen Wahrheit darin.<\/p>\n

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Hast du nur ein einziges Mal in deinem Leben etwas ganz bewusst getan, und zwar nicht nur im Bewusstsein deiner eigenen Freiheit, sondern auch im Bewusstsein all der Unfreiheiten, die du mit jeder deiner Handlungen bei anderen ausl\u00f6st?<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Jens Steiner: Junger Mann mit unauff\u00e4lliger Vergangenheit, D\u00f6rlemann Verlag<\/a>, 240 Seiten, 9783038200154<\/span>, 20,00 \u20ac<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

In Jens Steiners neuem Roman \u00fcberst\u00fcrzen sich die Dinge nicht selten in loriot’scher Zimmerverw\u00fcstungsdynamik. Eines greift unwillentlich ins n\u00e4chste, was urspr\u00fcnglich eine politische Aktion war, wird pl\u00f6tzlich zur unfreiwilligen Familienzusammenf\u00fchrung. Und zwischen allem und jedem: Schopenhauers Pudel und ein descartscher Homunkulus. Dieses Tableau an Skurrilit\u00e4ten ist zwar genauso absurd wie es klingt, macht deshalb aber mitnichten weniger Spa\u00df. Eigentlich ist Paul K\u00fcbler ein ganz normaler Philosophiestudent. Gemeinsam mit seinem Freund Magnus bildet er gewisserma\u00dfen eine eigene Einheit innerhalb der Studentenschaft. Die beiden nehmen ihr Studium und seine Inhalte nicht ganz so verbissen, lesen statt Parmenides auch Perry Rhodan und tun sich gelegentlich mit manch scharfsinniger Betrachtung ihres Umfelds hervor. Ihr gr\u00f6\u00dfter Coup soll ihnen aber gelingen, als Medienmogul Henri Kudelka sich f\u00fcr einen Vortrag auf dem Universit\u00e4tsgel\u00e4nde ank\u00fcndigt. Er, dem nachgesagt wird, dass er mehrere Zeitungen besitzt und kontrolliert, will zur Zukunft der Printmedien im 21.Jahrhundert referieren. Das stachelt die beiden Sonderlinge zu einer politisch-motivierten Aktion an, die beweisen soll, wes Geistes Kind Kudelka tats\u00e4chlich ist. N\u00e4mlich einer, der Macht hat und Macht nutzt, um …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":8817,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[1721,2034,2035],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2015\/07\/steiner.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/8816"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=8816"}],"version-history":[{"count":1,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/8816\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":8818,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/8816\/revisions\/8818"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/8817"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=8816"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=8816"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=8816"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}